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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Bürgermeister», erwiderte sie. «Aber den gibt es bei uns bereits.»
    Sie sah ihn trotzig an. Die Maske war gefallen. Immerhin etwas, dachte er. Jetzt brauche ich mir wenigstens die üblichen Andeutungen nicht
anzuhören, diese besondere Art, in der Frauen ihre Macht ausüben, indem sie mit ihrem Unverstand kokettieren.
    «Ein Bürgermeister verfügt nicht über sonderlich viel Macht. Ich hätte sie, wenn man mich nur meine Aufgaben erledigen ließe. Sie haben sie auch. Ich verstehe, dass Sie die Reederei geerbt haben und selbst weiterführen, noch dazu mit sicherer Hand.»
    «Ich kümmere mich nur um meine Angelegenheiten», entgegnete sie, «und das sollten Sie auch tun.»
    Oh, durchfuhr es ihn. Dann sind wir wieder da, wo wir begonnen haben, Beschränktheit als letztes Bollwerk, wenn der Kampf nicht auf offenem Feld ausgefochten werden kann.
    «Das würde ich auch gern tun», versetzte er. «Aber jedes Mal, wenn ich die Witwen von einem meiner Vorschläge zu überzeugen versuche, höre ich dasselbe. Zu unsichere Zeiten. Zu großes Risiko. Jemand sagt, es wäre klug zu warten. Und es ist immer wieder derselbe Name, der dann auftaucht. Ihrer.»
    Isaksen spürte, dass er dabei war, wütend zu werden. Er dachte an die Grundstücke, die sie an der Havnegade aufgekauft hatte und die nun brachlagen. Man hätte dort eine geschäftige Hafenfront entstehen lassen können. Doch die Grundstücke glichen Scheiterhaufen von Ideen, die abgebrannt waren, noch ehe man sie realisieren konnte.
    «Ich gehe täglich an den Grundstücken vorbei, die Sie erworben haben und die nun schändlicherweise Brachland bleiben. Vielleicht ist das ja ein ausgezeichnetes Bild für die Pläne, die Sie hegen. Sie haben vor, die ganze Stadt brachzulegen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Frau Friis …»
    Er fühlte, wie eine seit langem angestaute Gereiztheit Besitz von ihm ergriff.
    «Das, was Sie ‹sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern› nennen, das nenne ich ‹andere Menschen vernachlässigen, eine ganze Stadt, ihre Geschichte und Tradition›.»
    «Ich hasse das Meer.»
    Es brach urplötzlich aus ihr heraus. Hätte Isaksen richtig zugehört, hätte er begriffen, dass sich hier eine unerwartete Blöße zeigte, und die Chance ergriffen. Vielleicht gab es einen Weg zu ihr. Doch die Wut hatte ihn vollkommen im Griff. Er war sich ganz sicher, dass er der Ursache all
seiner Probleme gegenüberstand, dem ersten und, wie er hoffte, einzigen Fiasko seiner Karriere, das sich immer deutlicher abzeichnete.
    «Das ist allerdings eine eigenartige Äußerung», erwiderte er in ätzendem Ton, «so, als würde ein Bauer erklären, er hasse die Erde. In diesem Fall kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie sich am falschen Ort zur falschen Zeit befinden.»
    «Nein, im Gegenteil, ich befinde mich am richtigen Ort zur richtigen Zeit.»
    Sie war jetzt ebenso wütend wie er. Aber er hörte noch etwas anderes aus ihrer Stimme, nämlich seine eigene verspielte Chance und die Bitterkeit dessen, der sich abgewiesen fühlt. Er hatte nicht richtig zugehört, und nun versuchte er im letzten Augenblick, seinen Fehler zu korrigieren, indem er einen versöhnlicheren Ton anschlug.
    «Es tut mir leid, wenn ich ungerechtfertigte Anschuldigungen gegen Sie erhoben habe», sagte er. «Sollten wir nicht versuchen, vernünftig miteinander zu reden? Ich glaube, wir haben vieles gemeinsam.»
    «Ich muss Sie bitten zu gehen», antwortete sie mit fester Stimme.
    Er nickte ihr kurz zu, drehte sich um und verließ das Haus. Erst als er auf der Straße stand, wurde ihm klar, dass sie ihn überhaupt nicht gebeten hatte, sich zu setzen. Während ihrer Auseinandersetzung hatten sie sich gegenübergestanden. Sie verfügt über keinerlei Erziehung, dachte er.
     
    Isaksen suchte noch einmal die Witwen auf, um seine Forderung nach einer Vollmacht vorzubringen. Er wollte endlich seine Pläne für die Werft wie für die Reederei umsetzen.
    «Ich muss darauf aufmerksam machen, dass meine Forderung nach einer Vollmacht ultimativ ist», sagte er.
    Sie fragten, was «ultimativ» bedeute. Der Ton zwischen ihnen war allmählich so gereizt, dass er sich immer häufiger der kalten, formalistischen Sprache der Juristen bediente als seinen oft gelobten Überredungskünsten. Er erklärte, ultimativ bedeute, dass er sein Entlassungsgesuch einreichen und sich andernorts eine Stellung suchen müsse, sollte er die Vollmacht nicht erhalten.
    «Ja, aber um Himmels willen! Geht es Ihnen denn nicht gut hier?»
    Er

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