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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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größere Kristian Stærk mit einer Klappe über dem Auge nicht.
    Doktor Kroman schwieg. Wir hatten erwartet, dass er Anton den Kopf waschen würde, so wie die Lehrer in der Schule es immer taten. Wir glaubten, er würde ihn einen üblen Burschen nennen, ein schlechtes Beispiel, einen Lümmel und Gewohnheitsverbrecher und ihm dann sein verantwortungsloses Benehmen vorwerfen, ja ihm möglicherweise sogar damit drohen, ihn in eine Erziehungsanstalt zu schicken oder ins Gefängnis zu bringen. Doch der Doktor war ein nüchterner Mann. Er verstand sich auf den Körper und seine Funktionen und hielt sich an das, wovon er etwas verstand. Er forderte uns auf zu verschwinden, damit er in Ruhe Kristians Auge behandeln konnte.
    Wir gingen zur Tür.
    «Einen Moment noch, Wilhelm Tell», sagte Kroman. «Du kommst morgen früh zu mir. Es gibt da etwas, das ich mir näher ansehen möchte.»

     
    «Vielleicht ist es mein Gehirn», meinte Anton. «Er will untersuchen, ob es jemanden in Marstal gibt, der blöder ist als ich.»
    Er sah ziemlich zerknirscht aus. Es gab im Grunde nichts zu sagen. Es war ja seine Schuld. Er hatte Kristian Stærks Auge zerstört. Obwohl wir gelogen hatten, als er uns darum bat, wussten wir doch genau, dass er etwas so Schlimmes getan hatte, dass es nicht einmal nutzte, sich dafür zu entschuldigen.
     
    Als wir Anton das nächste Mal sahen, trug er eine Brille.
    Sein Gesicht, das vorher immer so entschlossen gewirkt hatte, ja beinahe hart, wirkte blass und wehrlos hinter dem dunkelbraunen Horngestell, das ihn zu Boden zu drücken schien. Er machte den Eindruck, als würde er am liebsten seinen Namen ändern, und wenn es eine Botschaft in seinem Blick hinter den Brillengläsern gab, dann hieß sie: «Tu bitte so, als hättest du mich nicht gesehen.»
    Die Brille bedeutete nicht nur sein Ende als Anführer der Albert-Bande, sie bedeutete, dass er überhaupt am Ende war. Eines Tages hätte er Seemann werden wollen. Das war der Sinn seines Lebens, denn was hätte er sonst machen sollen? Aber ein Seemann kann nicht mit einer Brille herumlaufen. Das ist schlichtweg verboten. Er muss so gut wie ein Adler sehen. Er kann als älterer Mann ruhig weitsichtig werden, aber als kurzsichtiger junger Mann braucht er gar nicht erst anzufangen.
    Und es war Schluss. Nicht nur mit Antons Plänen – doch im Grunde war es ja eigentlich gar kein Plan, dass er Seemann werden sollte. Es war eher ein Naturgesetz, der unumgängliche Kulminationspunkt seines Aufwachsens. Er wurde mit jedem Jahr, das verging, größer, stärker und älter, und eines Tages wären all diese Veränderungen, die keine irdische Macht stoppen konnte, darauf hinausgelaufen, dass er das Deck eines Schiffs betrat und dort für den Rest seiner Tage blieb. Die Brille jedoch bedeutete den Abschied von der Shipper Street in Antwerpen, der Reeperbahn in Hamburg, der Paradise Street in Liverpool, der Tiger Bay in Cardiff, dem Vieux Carré in New Orleans, der Barbary Street in San Francisco und der Foretop Street in Valparaiso; es war ein Abschied von Amer Picon, Absinth und Pernod. Als hätte ihm jemand sämtliche Inspirationen genommen und auf ihnen herumgetrampelt, bis eine nach der anderen ausgelöscht war.

    Doktor Kroman hätte ihm ebenso gut sagen können, dass er niemals ein erwachsener Mann würde. Ein Anton mit Brille war kein Anton mehr. Nun verstanden wir, warum er ständig mit zusammengekniffenen Augen herumgelaufen war und wieso er den Storch nicht getroffen hatte. Es hatte nicht an der Knallbüchse gelegen. Mit Anton war etwas nicht in Ordnung. Er war nicht der, für den wir ihn hielten.
    Das Merkwürdige war, dass uns Anton mehr leid tat als Kristian Stærk. Vielleicht lag es daran, dass wir alle zu Anton aufgesehen hatten, während Kristian mit seinen Wackelohren und der allzu lockeren Hand, wenn es um Kleinere ging, niemand richtig mochte.
    Kristians Leben veränderte sich nicht, weil er ein Auge verloren hatte. Er setzte seine Lehre als Eisenwarenhändler fort. Aber für Anton wurde alles anders.
     
    Die Lehrer nahmen die Brille zunächst ernst und vermuteten, Anton hätte Interesse an Büchern gefunden, ja möglicherweise sei er sogar zu einer Leseratte geworden. Aber schon bald mussten sie einsehen, dass er so unmöglich war wie immer. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie ihn nun aufforderten, die Brille abzunehmen, bevor sie ihm eine Ohrfeige gaben.
    Für uns waren die Brillengläser wie zwei verschlossene Türen. Er versteckte

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