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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wusste, wer der Ermordete war und zur Aufklärung des Mordes hätte beitragen können. Aber das war Anton immer schon egal gewesen. Seinetwegen mochte Herman frei herumlaufen. Nun wurde ihm schlagartig bewusst, wie leichtsinnig dieser Gedanke gewesen war. Und er sah keinen Ausweg aus der Klemme, in der er sich befand.
     
    Am nächsten Morgen fand er Tordenskjold tot in ihrem Bauer. Jemand hatte der Sturmmöwe den Hals umgedreht. Die Flügel waren gebrochen und beinahe ausgerissen, als hätte eine Person mit ungewöhnlicher Kraft und unbändiger Wut die Kontrolle verloren. Antons Hände begannen
bei diesem Anblick zu zittern, und es verging einige Zeit, bis er sich zusammenriss und die tote Möwe begraben konnte.
    An diesem Abend ging er durchs Haus und verriegelte sämtliche Türen.
    «Schließt du jetzt auch noch die Türen ab?», fragte seine Mutter. «Ich finde, du verhältst dich in letzter Zeit merkwürdig.»
    Sie hatte durchaus bemerkt, dass Anton sich verändert hatte, aber sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Sie fragte ihn nicht, ob irgendetwas nicht stimmte. Alles in Antons Dasein erschien ihr so fremd, so geheimnisvoll und unbekannt, dass sie sich manchmal fragte, ob sie dieses Kind wirklich zur Welt gebracht hatte, das alle anderen den Schrecken Marstals nannten. Sich bei ihm zu erkundigen, ob er ein Problem hätte, war so, als würde man ihn fragen, wer er eigentlich sei; und sie wusste aus bitterer Erfahrung, dass die einzige Antwort darauf ein Achselzucken wäre.
    «Haben wir einen Nachttopf?», fragte Anton.
    «Bist du krank?»
    «Ja», antwortete Anton.
    «Du willst doch nicht etwa morgen die Schule schwänzen?»
    «Ich gehe schon zur Schule. Gib mir jetzt den Nachttopf.»
    Seine Mutter tat wie ihr geheißen, und bedachte Anton mit einem seltsamen Blick. Oben in seinem Zimmer entleerte er sich gründlich, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen, schließlich hatte er es den ganzen Tag zurückgehalten. Als Herman in der Nacht erneut kam und anfing, nach Anton zu rufen, goss er ihm den Inhalt des Topfs über den Kopf.
    Es funktionierte. Herman erschien nicht noch einmal, doch der Sieg hob Antons Laune nicht. Er begann, ein Messer mit sich herumzutragen, und hörte auf zu essen. Nachts schlief er in Alberts Stiefeln. Er wusste nicht, warum, aber er fühlte sich sicherer, wenn er sie anhatte. Möglicherweise bereitete er sich auf den Tod vor. Sein Gesicht fiel ein und nahm einen harten Zug an. Hatte ihn die Brille anfangs wie einen kleinen Jungen aussehen lassen, glich er nun einem alten Mann. Er bekam kohlschwarze Ringe unter den Augen. Einmal wies sein Kopf Blutergüsse, Schnittwunden und Beulen auf, ja und sogar richtig blaue Augen, die allmählich ins Purpurne wechselten, um schließlich gelb zu verblassen. Für einen Jungen waren das alles Zeichen von guter Gesundheit. Nur
nicht die schwarzen Ringe: Es sah aus, als wäre er vom Tod gezeichnet, so wie der Förster im Wald mit Kreidestrichen die Bäume markiert, die gefällt werden sollen.
    Seine Mutter machte sich jetzt ernsthaft Sorgen, und diesmal konnte sie nicht mit Strafen drohen, wenn der Vater heimkam.
    «Lass mich in Ruhe», sagte er jedes Mal, wenn sie sich ihm näherte.
    Ständig spielte er mit seinem Messer. Er hatte den Plan, Herman zu töten, aber er wusste nicht, wie er es anstellen sollte. Er war schneller als Herman und konnte ihm durchaus entkommen, aber was würde das bringen? Er konnte schließlich keinen Mann umbringen, indem er davonlief.
    Immer seltener ging er vor die Tür; ununterbrochen schaute er sich um, wenn er auf dem Weg zur Schule oder zurück nach Hause war. Früher hatte er eine Gruppe, die zusammenhielt. Jetzt war er allein.
     
    Einige Tage später hörte er wieder, dass aus dem Küchengarten nach ihm gerufen wurde. Inzwischen schloss er sämtliche Türen des Hauses schon am helllichten Tag ab, und als er seinen Namen hörte, während die Nachmittagssonne ihre schrägen Strahlen durch sein Giebelfenster warf, war er froh, dass er es getan hatte. Dann bemerkte er, dass die Stimme nur seinen Vornamen rief. Es war nicht die übliche heiser flüsternde Stimme, die versuchte, ihre einschüchternde Lautstärke zu unterdrücken, und sie dennoch verriet. Es war eine Jungenstimme wie seine eigene, und Anton wagte sich ans Fenster, um hinunterzusehen. Unten stand Knud Erik.
    «Du bist es?», fragte Anton verblüfft.
    Und Knud Erik sagte etwas, das er schon lange hatte sagen wollen. Egal, wie oft er es

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