Wir Ertrunkenen
Schicksal entschieden wurde, sondern auch über Antons. Schon bald sollten wir ihn für alle Zeiten als unseren Anführer verlieren.
Als wir Doktor Kromans Praxis erreichten, war es zu einem regelrechten Auflauf gekommen. Abgesehen von den Mitgliedern der Albert-Bande hatten sich wohl zwanzig bis dreißig Menschen versammelt. Wir kamen außerhalb der Sprechstunde, also hämmerten wir gegen die Tür und riefen nach dem Doktor. Kroman öffnete, packte Kristian Stærk sofort bei den Schultern und nahm ihn mit. Kristian hörte sofort auf zu schreien, als wüsste er, dass er sich nun in guten Händen befand; vielleicht wollte er vor dem Arzt aber auch nur angeben.
Der Rest von uns versuchte, ihm ins Behandlungszimmer zu folgen.
«Euch geht’s wohl zu gut!», schimpfte Doktor Kroman. «Macht, dass ihr wegkommt!»
Nur Anton, Vilhjelm und Knud Erik durften mit hinein.
Der Arzt sah Kristian an und fragte, was passiert sei.
«Er hat einen Ast ins Auge bekommen», sagte Anton.
«Kannst du nicht selbst antworten?», fragte Kroman.
«Ich hab einen Ast ins Auge bekommen», wiederholte Kristian Stærk, und in diesem Moment waren wir wirklich stolz auf ihn.
Doktor Kroman hatte Kristian inzwischen auf eine Liege gelegt und begann, das Blut aus seinem Gesicht zu waschen. Er griff vorsichtig an sein Lid und öffnete das Auge. Wir wandten uns ab. Wir hatten keine Lust zuzusehen.
«Doktor Kroman», fragte Kristian, und seine Stimme war ganz ruhig, «werde ich mit diesem Auge wieder sehen können?»
«Ich will ehrlich zu dir sein», antwortete der Doktor. «Das Auge ist nicht mehr zu retten.»
«Bekomme ich ein Glasauge?»
Kristians Stimme klang noch immer ruhig, als ob die gerade von Kroman erhaltene Mitteilung nicht sonderlich von Bedeutung wäre.
Unser Respekt vor ihm stieg enorm.
«Nicht unbedingt», erwiderte der Arzt.
«Sehr gut», meinte Kristian, «am liebsten hätte ich sowieso eine Klappe.»
Als wir später darüber redeten, verstanden wir natürlich, was Kristian plante. Ihm war klar, dass Anton am Ende war, und nun sah er neue Möglichkeiten. Er würde der unangefochtene Anführer der Albert-Bande werden. Er würde eine Klappe über dem Auge tragen, und der Kopf des ermordeten Mannes würde zusammen mit dem Geheimnis über seinen Mörder an ihn übergehen. Doch in Doktor Kromans Behandlungszimmer sahen wir nur, dass Kristian Stærk letztlich doch seinem Namen entsprach. Unsere Bewunderung für die Art, wie er diesen harten Schlag des Schicksals hinnahm, kannte keine Grenzen.
Wir hatten ganz vergessen, dass Anton auch noch da war.
Doktor Kroman allerdings nicht.
«Ich habe den Eindruck, dass du dich jedes Mal in der Nähe befindest, wenn irgendjemandem etwas passiert», sagte er und sah Anton prüfend an. «Warst du es nicht, der mit Henry Levinsen kam, als sich ein Übertopf an seinem Kopf verklemmt hatte?»
«Ja», antwortete Anton, «das stimmt. Aber ich habe es nicht getan.»
«Und du hast natürlich auch nicht versucht, den Storch abzuschießen? », bohrte der Doktor nach.
Anton sagte nichts. Er starrte vor sich hin und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Wieder kniff er die Augen auf diese irritierende Weise zusammen, die wir in der letzten Zeit so oft bei ihm
beobachtet hatten – als würde er noch immer mit der Knallbüchse herumlaufen und auf irgendwelche Ziele anlegen.
«Und hiermit hast du also auch nichts zu tun?»
«Er hat einen Ast ins Auge bekommen», erklärte Knud Erik.
«Ich habe einen Ast ins Auge bekommen», bestätigte Kristian von der Liege her, auf der er noch immer lag.
«Es ist meine Schuld», sagte Anton plötzlich. «Ich war es, ich habe ihm ins Auge geschossen.»
Wir glaubten unseren eigenen Ohren nicht zu trauen. Erst hatte Anton die Geschichte mit dem Zweig erfunden, und nun verriet er, wie es sich wirklich zugetragen hatte.
«Ich habe mit Pfeil und Bogen geschossen», fuhr er fort. «Es war nicht meine Absicht, sein Auge zu treffen. Ich habe auf einen Apfel auf seinem Kopf gezielt. Trotzdem ist es meine Schuld. Ich hab’s getan.»
Er sah Doktor Kroman direkt in die Augen, als er sein Geständnis ablegte.
Einen Moment lang hatten wir ihn vergessen. Nun erinnerten wir uns, wer er war, und wussten, dass er immer unser Anführer sein würde, egal, was passierte. Es gab nur einen Anton, und es mochte sein, dass er nicht der beste Schütze der Welt war; doch es gab niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, auch der drei Jahre ältere und sehr viel
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