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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sich dahinter und schloss uns aus. Er überließ die Führerschaft der Albert-Bande Kristian Stærk, doch es zeigte sich rasch, dass Kristian an seiner neu erworbenen Macht keine rechte Freude fand. Der einzige Vorteil, den er uns anderen gegenüber besaß, waren seine Kräfte, doch das lag ausschließlich am Altersunterschied. Sonst konnte er nichts, was wir nicht ebenso gut konnten, und er konnte überhaupt nichts, was Anton nicht sehr viel besser gekonnt hätte. Kristian hatte keine besonderen Ideen, wie wir unsere Position innerhalb der Banden der Stadt festigen sollten, und die Schläge, die die Südbande gegen uns richtete, weil sie unsere Schwäche nach dem Verlust von Anton spürte, wusste er nicht so zu beantworten, dass sie Respekt vor uns bekamen. Kristian Stærk war ratlos und ohne Ideen. Er gängelte uns und teilte «Pferdeküsse» und «Tausend Stecknadeln» aus, um seine Angst nicht zu zeigen, die er letztlich doch nicht verbergen konnte, denn seine wackelnden Ohren verrieten ihn immer wieder.

    Es half nicht, dass er eine Klappe über dem Auge trug und gefährlich aussah. Und es half ihm noch weniger, dass Anton sich weigerte, ihm Alberts Stiefel und den Kopf des Ermordeten zu überlassen. Doch ohne sie konnte er das Aufnahmeritual der Albert-Bande nicht durchführen, und er besaß einfach zu wenig Phantasie, um ein neues Ritual zu erfinden.
     
    Als Kristian es aufgab, an die Stiefel und den Schädel zu kommen, wurde uns allen klar, dass die Albert-Bande ihre Seele verloren hatte. Diese Seele stellte Anton dar, Kristian Stærk war nie etwas anderes gewesen als Antons verlängerter Arm. Jetzt war er ein Arm ohne Kopf, und das bedeutete das Ende.
    Die Bande löste sich auf, es wurden neue gegründet. Aber es war nie wieder dasselbe. Es ist nicht gelogen, wenn wir behaupten, dass Marstal zu einem friedlicheren Ort wurde, als Anton seine Brille bekam. Er saß allein in seinem Giebelzimmer im Møllevej. Wenn wir in der Schule etwas über General Napoleon hörten, der auf Sankt Helena hatte leben müssen, dachten wir immer an Anton. Aber wir waren der Ansicht, dass Antons Schicksal noch trauriger war als Napoleons, denn der hatte selbst Schuld an seiner Niederlage. Er hatte seine letzte, entscheidende Schlacht verloren, während das bei Anton nicht der Fall war – er war bloß kurzsichtig geworden.
     
    Kristian zog sich aus dem Bandenleben zurück und musste nicht mehr länger Jungen verprügeln, die kleiner waren als er, nur um zu beweisen, dass er es noch konnte. Stattdessen kümmerte er sich nun um seine Lehre bei Samuelsen. Er glaubte, erwachsen geworden zu sein. So sah es auch der Eisenwarenhändler, der feststellte, dass als erster Effekt von Kristian Stærks Eintritt ins Erwachsenenalter der Schwund des Rohrstockbestandes, den Kristian als sein Waffenlager angesehen hatte, abrupt abnahm.
    Kristian war ursprünglich der Ansicht gewesen, er und Anton hätten ihre Differenzen in aller Güte beigelegt. Anton hatte sich entschuldigt, und Kristian erklärte, dass ihm der kurzsichtige arme Kerl beinahe leid tue, der mit dieser hässlichen Brille herumlaufen müsse. Doch als Anton sich weigerte, den Schädel herauszurücken, stellte Kristian fest, dass es
noch immer viele Gründe gab, Anton nicht gewogen zu sein. Zunächst einmal natürlich die Sache mit dem Auge. Außerdem hatte Anton ihn immer zum Narren gehalten und versucht, ihn auszumanövrieren. Es war seine Schuld, dass Kristian den Zugriff auf die Albert-Bande verloren hatte, eine Machtposition, die er jedes Mal aufs Neue vermisste, wenn er einen Rohrstock zur Hand nahm. So weit ging sein Bekenntnis zum Leben der Erwachsenen letztlich dann doch nicht. Die Summe all dieser Gründe ergab auch ein Resultat, und dieses hieß Rache. Boshaft, wie er war, wählte er die raffinierteste und grausamste Form, die man sich vorstellen konnte.
    Anton hatte ihm den Namen des ermordeten Mannes anvertraut, und wenn man wusste, wer das Opfer war, kannte man automatisch den Täter. Kristian entschloss sich, dem Mörder zu verraten, dass Anton seine Schuld beweisen konnte.
    Als Herman eines Tages die Eisenwarenhandlung betrat, um einen Zollstock zu kaufen, und sie einen Augenblick allein waren, erzählte Kristian es ihm. Dass er nicht unbedingt die intelligenteste Methode wählte, um sein Geheimnis preiszugeben, mag zum Teil an der großen Angst gelegen haben, die seine Ohren schlimmer als je zuvor wackeln ließ.
    «Anton Hansen Hay weiß genau, dass du Jepsen

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