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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wir, dass man ihn durchaus unterschiedlich betrachten konnte.
    Bjørn Karlsen schleppte Anton die Markgade entlang. Unterwegs verhörte er ihn über das Luftgewehr.
    «Gehört es dir?», fragte er.
    Anton sagte einfach Ja. Er hatte keine Lust zu erklären, dass es seinem Vetter gehörte, und im Grunde war es jetzt auch egal.
    «Ich werde dir zeigen, was man mit einem wie dir macht», sagte der Takler.
    Er überquerte den Marktplatz, noch immer mit einem festen Griff an Antons Kragen. Wir folgten in sicherem Abstand und verstanden nicht, warum Anton schwieg. Niemand konnte ihm imponieren, und wir hatten noch keinen Erwachsenen erlebt, den er mit seiner Schlagfertigkeit nicht außer Gefecht gesetzt hatte. Nun schien ihm alles egal zu sein. Eine merkwürdig gleichgültige Neugierde stieg in uns auf. Wir hätten ihm etwas Aufmunterndes zurufen oder Bjørn Karlsen mit Beschimpfungen bombardieren können. Doch wir sagten kein Wort.
    Bjørn Karlsen ging die Prinsegade hinunter und die Havnegade entlang bis zur Dampskibsbro. Unterwegs begegneten wir niemandem. Die Stadt war wie ausgestorben, sie erschien uns wie eine Theaterbühne, die auf ein großes, trauriges Ereignis wartete. Vielleicht sollten wir heute Antons Fall erleben.
    Der Takler blieb direkt am Rand des Kais stehen.
    «Jetzt werde ich dir mal zeigen, wozu so ein verdammtes Gewehr gut ist», sagte er.
    Er nahm Anton die Knallbüchse ab und schlug sie hart auf das Bollwerk. Der Holzkolben splitterte. Anton schwieg. Er starrte noch immer vor sich hin, so wie er es die ganze Zeit über getan hatte. Bjørn Karlsen schmiss das zerstörte Gewehr in die Hafeneinfahrt. Man hörte ein leises Platschen, dann verschwand es unter der Oberfläche. Noch immer hielt Karlsen Anton am Kragen gepackt. Nun griff er auch noch nach seiner Hose und schickte ihn mit einem gewaltigen Schwung auf denselben Weg wie die Knallbüchse.

    Als Anton wieder auf dem Kai stand, tat er so, als wäre nichts gewesen, obwohl er vor Nässe triefte. Er sah uns mit zusammengekniffenen Augen an.
    «Auf diese Weise sind wir das Scheißgewehr los», sagte er.
     
    Er wollte etwas beweisen, vielleicht uns, am meisten aber sich selbst. Es hatte mit Treffsicherheit zu tun, nur verstanden wir nicht, warum. Niemand begriff, wie er, der einen Spatzen oder Hasen auf der Flucht auch aus großer Entfernung immer getroffen hatte, bei einem Storch vorbeischießen konnte, der still dasaß. Also musste es die Knallbüchse gewesen sein.
    Solange es das Gewehr war, lag es nicht an Anton. Diesem Gedankengang konnten wir folgen, weiter dachten wir nicht.
     
    Anton kam auf die Idee, jemandem einen Apfel vom Kopf zu schießen. Er wollte es wie Wilhelm Tell mit Pfeil und Bogen schaffen. Selbstverständlich an einem windstillen Tag. Der Pfeil würde ihn nicht im Stich lassen. Pfeil und Bogen waren uralte Waffen, und alles hing vom Bogenschützen ab – nicht wie im Fall des Scheißgewehrs, das jetzt auf dem Boden des Meeres lag, wo es hingehörte, von irgendeinem zufälligen Fehler der Technik. Kristian Stærk sollte seinen Kopf hinhalten. Etwas anderes kam gar nicht in Frage. Es war einfach unter Antons Würde, seine Untergebenen für lebensgefährliche Aufgaben abzukommandieren, wenn er sich nicht selbst auch in die Gefahrenzone begab. Er und Kristian Stærk waren ebenbürtig. Er brauchte nur anzudeuten, was er vorhatte, und schon meldete sich Kristian. Er wackelte mit den Ohren, wie immer, wenn er Angst hatte. Aber er konnte nicht ablehnen. Dann wäre er abgeschrieben gewesen.
    Wir überlegten hin und her. Wenn Kristian Stærk nun im letzten Moment der Mut verließ? Oder Antons Treffsicherheit noch einmal versagte?
     
    Dann kam der Tag, an dem Anton und Kristian Stærk ihre Probe bestehen sollten. Wir gingen zu dem Feld an der Vestergade, auf dem wir so oft die großen Schlachten mit der Südbande geschlagen hatten. Henry Levinsen war mit seiner schiefen, aber inzwischen verheilten Nase
erschienen und stand beim Rest seiner Bande. Ihre Waffen hatten sie nicht dabei. Sie waren ebenso wie wir Übrigen gekommen, um an dem Ereignis teilzunehmen, das ebenso gut Antons Triumph wie seine Niederlage bedeuten konnte. Alles in allem waren wir wohl um die fünfzig Jungen.
    Es hatte geregnet, und es war anstrengend, sich auf der schwarzen Erde zu bewegen.
    Kristian Stærk stellte sich mitten aufs Feld, und Knud Erik versuchte, ihm einen Apfel auf den Kopf zu legen, der allerdings ständig herunterfiel. Wir hatten eine Generalprobe

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