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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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für überflüssig erachtet, und die meisten hielten es für ein schlechtes Zeichen. Kristian musste sich sein halblanges fettiges Haar zerwühlen, bis sich ein Kissen auf seinem kleinen Kopf gebildet hatte und der Apfel liegen blieb. Seine Ohren wackelten unablässig. Wir dachten an Antons Witz, dass seine Ohren wie Flügel aussahen, die mit dem Kopf davonfliegen wollten. Wir hatten keinen Zweifel, was Kristian Stærks Ohren in diesem Moment getan hätten, wenn es wirklich möglich gewesen wäre.
    Anton stand ihm gegenüber, sie starrten sich an wie zwei Duellanten. Dann begann Anton rückwärtszugehen, während er seine Augen zusammenkniff, als konzentrierte er sich. Er ging so lange rückwärts, bis er überhaupt keine Chance mehr hatte, den Apfel zu treffen. Ja, wir zweifelten, ob der Bogen überhaupt so weit schießen konnte.
    Knud Erik rief, er solle stehen bleiben und wieder ein Stück nach vorn gehen.
    Anton weigerte sich, und wir mussten ziemlich lange mit ihm diskutieren, bevor er einwilligte, in fünfzehn Schritt Abstand zu Kristian zu stehen, der inzwischen so konfus war, dass der Apfel noch einmal herunterfiel.
    Endlich war alles bereit. Anton spannte den Bogen und legte den Pfeil an. Er kniff die Augen so fest zusammen, dass es aussah, als versuchte er, den Apfel mit geschlossenen Augen zu treffen.
    Ziemlich viele von uns glaubten, dass es so ausgehen würde wie bei dem Storch. Anton hatte sich nicht mehr im Griff.
    Doch dieses Mal schoss Anton nicht daneben. Nur war es nicht der Apfel, den er traf – sondern Kristian Stærk.

     
    Wir hatten kaum das Geräusch der gespannten Bogensehne gehört, als der Pfeil abgeschossen wurde, als Kristian sich mit einem Aufschrei nach vorn beugte und seine Hände vors Gesicht schlug. Der unversehrte Apfel fiel auf die Erde, allerdings bemerkte es niemand von uns. Wir sahen, dass der Pfeil feststeckte, aber wegen der Hände, wussten wir nicht, wo. Dann richtete sich Kristian auf und brüllte zum Himmel, als hätte er den Verstand verloren. Es klang unheimlich, denn er war ja ein beinahe erwachsener Mann. Er legte den Kopf in den Nacken, um noch lauter schreien zu können. Der Pfeil folgte kurz seiner Bewegung, dann fiel er zu Boden. Die Spitze war rot.
    Vilhjelm war als Erster bei Kristian. Er hielt ein Taschentuch in der Hand.
    Anton rührte sich nicht. Es war, als müsste er erst seine Niederlage verdauen, bevor er überhaupt begriff, dass er Kristian Stærk angeschossen hatte. Später haben wir uns oft darüber unterhalten, was für Anton wohl schlimmer gewesen ist, sein durch den Fehlschuss beschädigter Ruf oder die Wunde, die er Kristian zufügt hatte.
    Dann kam er endlich zu sich. Er lief zu Kristian, blieb aber ein paar Meter vor ihm stehen.
    «Er muss zu Doktor Kroman», sagte er, wobei es ihm gelang, seine Stimme ganz nüchtern klingen zu lassen.
    Er war noch immer unser Anführer, und in diesem Moment wurden wir ganz ruhig, obwohl einige der kleineren Jungen vor Schreck aufschrien, als sie sahen, wie Vilhjelms Taschentuch sich von Blut rot färbte.
    Anton trat auf Kristian zu, der sich noch immer die Hände vors Gesicht hielt und schrie.
    «Lass mich mal sehen, wo ich dich getroffen habe», sagte er und strich Kristian das Haar aus der Stirn.
    «Du fasst mich nicht an!», schrie Kristian.
    Dennoch nahm er die Hände vom Gesicht, und wir sahen aus seinem rechten Auge Blut fließen. Es war ein ganzer See aus Blut.
    Anton nahm Kristian bei der Hand, genau so, wie er es mit Henry Levinsen gemacht hatte, als ihm der Topf über die Ohren geschlagen worden war. Und Henry hätte sich bestimmt an diesen Tag erinnert, wenn er noch da gewesen wäre, aber die Südbande hatte sich längst davongemacht.

    «Wir sagen, dass er einen Ast ins Auge bekommen hat», erklärte Anton und sah sich mit der alten Autorität im Blick in der Gruppe um.
    Dann marschierten wir wie bei einem Umzug durch die Stadt zu Doktor Kroman. Kristian hörte nicht auf mit seiner Schreierei, und allen, denen wir begegneten, sagten wir dasselbe: «Er hat einen Ast ins Auge gekriegt.»
    Wir hatten nicht das Gefühl, dass wir Anton deckten. Wir deckten uns selbst. Wie es dazu gekommen war, dass Blut aus Kristian Stærks Auge floss, ging die Erwachsenen nichts an. Das Auge ging nur Doktor Kroman etwas an. Er war der Einzige, der etwas tun konnte. Nun überließen wir Kristians Schicksal ihm.
    Wir ahnten allerdings nicht, dass an diesem Tag in Doktor Kromans Behandlungszimmer nicht nur über Kristians

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