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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ermordet hast. Als Beweis hat er seinen Kopf, in dem oben ein großes Loch ist.»
    Wäre Herman dümmer gewesen, hätte er Kristian Stærk auf der Stelle am Kragen gepackt und ihn gründlich durchgeschüttelt, um herauszubekommen, wo Anton den Kopf versteckte. Stattdessen spielte er vernünftigerweise die Rolle des Unschuldigen und gab Kristian eine Ohrfeige, dass er in die Schubladen mit dem Werkzeug flog.
    «Zum Teufel, was willst du mir da anhängen, Bursche?», brüllte er aufgebracht.
    Samuelsen stürzte aus dem Hinterzimmer.
    «Was geht hier vor?»
    Seine Stimme klang erschrocken. Wie die meisten anderen hatte auch er Angst vor Herman.
    «Ich versuche, deinen Lehrling zu erziehen», erklärte Herman ruhig.
    Er drehte sich um und verließ den Laden, ohne den Zollstock gekauft zu haben. Kristian rieb sich seine schmerzende Wange, auf der sich rote
Flecken zeigten, wobei er versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Seine Ohren hatten sich beruhigt.
    Ihm war nicht entgangen, dass Hermans Hände zitterten, er wusste, dass er etwas losgetreten hatte.

    Anton hatte versucht, uns weiszumachen, dass der Ermordete jede Nacht im Kartoffelbeet stehen und nach seinem Kopf rufen würde, doch wir hatten ihm nie geglaubt. In dieser Nacht jedoch verwandelte sich seine Lüge in Fleisch und Blut. Unten im Küchengarten stand eine gebückte schwarze Gestalt und verlangte mit einer Stimme, die sich zwischen Flüstern und heiserem Rufen bewegte, den Kopf, nicht seinen eigenen, sondern den des Opfers.
    Anton, der tief schlief, glaubte zunächst, er sei in der Schule oder bei seinem Vater, denn nur die Lehrer und sein Vater benutzten seinen vollen Namen, wenn er gemaßregelt wurde – und der Mann in den Kartoffelreihen rief in diesem Moment alle drei Namen, um auf sich aufmerksam zu machen.
    «Anton Hansen Hey», hörte er an seinem Fenster.
    Es dauerte eine Weile, bis Anton aufwachte, und es verging noch mehr Zeit, bis er begriff, woher die Stimme kam. Er sah aus dem Fenster, konnte aber nicht erkennen, wer dort unten stand. Da er schon lange nicht mehr an den Kopf des Ermordeten gedacht hatte, verstand er im ersten Moment nicht, worum es ging. Er hatte nie an seine eigene Geschichte von dem Gespenst, das ihn in der Nacht heimsuchte, geglaubt, und daher empfand er im ersten Moment auch keine Angst. Außerdem war nicht zu übersehen, dass die schwarze Gestalt dort unten im Garten ihren Kopf noch besaß.
    Dann aber wachte er richtig auf, und obwohl der Mann unter dem Fenster nicht sagte, wie er hieß, war es Anton doch sehr schnell klar. Nun bekam er Angst, größere Angst, als er je vor irgendeinem Gespenst haben würde, größere Angst, als er je in seinem Leben gehabt hatte, was allerdings nicht viel hieß. Wenn Herman seinen Stiefvater ermorden konnte, konnte er auch ihn umbringen. Das wäre überhaupt kein Problem.

    Als Anton mit seinen Überlegungen so weit gediehen war, schloss er rasch das Fenster und lief die Treppe hinunter, um zu prüfen, ob die Türen im Haus auch alle verriegelt waren. Sie waren es nicht, aber glücklicherweise steckten die Schlüssel innen. Hektisch sperrte er eine Tür nach der anderen zu, bevor er in sein Zimmer zurücklief und sich unter dem Bett versteckte.
    Nach einer Weile wurde es still unter dem Fenster. Anton war zu erschöpft, um wieder ins Bett zu kriechen. Sein letzter Gedanke, bevor er auf dem Boden einschlief, war: Gut, dass niemand ihn so sehen konnte.
     
    Antons Vater war nicht zu Hause und bereits neun Monate auf See, und es würde noch mindestens ein Jahr vergehen, bis er wieder zurückkam. Er wusste nichts von Antons Brille, aber Anton war sicher, dass er im Willkommensgruß das Wort «Brillenschlange» verwenden würde, wenn der Vater am Tag seiner Rückkehr die Veränderung im Gesicht seines Sohnes sah. Doch seinem Vater wollte er sich ohnehin nicht anvertrauen, ebenso wie er sich nicht vorstellen konnte, sich bei seiner Mutter oder irgendeinem anderen Erwachsenen auszusprechen. Anton war der Ansicht, dass ein Junge seine Probleme selbst zu lösen habe und keine Hilfe von anderen erwarten dürfe, schon gar nicht von Erwachsenen, den natürlichen Feinden der Kinder. Vor die Wahl gestellt, ob sie einem Kind oder ihresgleichen glauben sollten, würden sie niemals dem Kind Glauben schenken, und schon gar nicht dem Schrecken Marstals, der Kristian Stærk ein Auge ausgeschossen hatte und seit geraumer Zeit den Kopf eines ermordeten Mannes in seinem Zimmer versteckt hielt – obwohl er

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