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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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anderen Straßenseite.
Erst glaubte er an einen Zufall, aber als er um die Ecke in Richtung Südstadt bog, hingen sie noch immer an ihm. Er kannte keinen von beiden. Herman blieb stehen und drehte sich um. Sie sollten wissen, dass er sie bemerkt hatte. Sie blieben, wie erwartet, ebenfalls stehen und starrten ihn weiterhin an. Er stampfte mit einem Fuß aufs Pflaster. Erschrocken zuckten sie zusammen und wichen ein paar Schritte zurück. Aber sie starrten noch immer. Als er das Ende der Kirkestræde erreichte, verschwanden sie. Doch in der Snaregade standen erneut zwei Burschen, und als er zum Wasser hinunterlief, folgten sie ihm, die ganze Zeit mit diesem geheimnisvollen, permanenten Starren.
    «Sehe ich vielleicht anders aus als andere?», rief er einem von ihnen zu. «Was glotzt ihr so?»
    Sie antworteten nicht. Er sah, dass sie erstarrten, wahrscheinlich hatten sie Angst. Aber sie verschwanden nicht. Sie riefen ihm auch nichts nach. Das verwirrte ihn am meisten. Es hatte keinen Sinn, ihnen hinterherzulaufen. Er war groß und schwer, sie waren schneller als er. Er musste sich beherrschen und so tun, als würde er sie ignorieren.
    Er, der sein Leben deutlich sichtbar und in aller Öffentlichkeit führte, war es gewohnt, in Marstal angestarrt zu werden. Er selbst hatte es nicht so gewollt, aber dass es so war, wusste er für sich zu nutzen. Er besaß Macht – vielleicht nicht über ihren Geist, doch zumindest über die Ausflüchte des Geistes, die Phantasie. Er war aus dem Stoff, aus dem Klatsch und Furcht gemacht sind, und in seinem Fall vermischte sich beides. Sie ergötzten sich daran, wenn er fiel, so wie er gefallen war, als Henckel ins Gefängnis musste, die Stahlschiffswerft in Konkurs ging und er alles verlor. Aber sie ergötzten sich nur, weil sie ihn fürchteten. Damals glaubten sie, er sei am Ende. Aber er war niemals am Ende, er würde immer zurückkommen. Er erkannte, was in ihren Blicken lag: Hass, Furcht, Schadenfreude, Neid, Angst, und sein Geist labte sich daran.
    Das Glotzen der Jungen verstand er nicht. Sie warteten auf ihn vor der Pension in der Tværgade, in der er wohnte, wenn er sich in Marstal aufhielt. Er konnte in einen Laden gehen und wieder herauskommen, er konnte einen Spaziergang am Hafen machen, er konnte sich in Webers Café verstecken, stets standen sie da und warteten auf ihn, und immer öfter suchte er Schutz und hatte Verstecke nötig. Eine Tür zu etwas Unbekanntem wurde in ihm aufgestoßen. Damals an Bord der Tvende
Søstre hatte er etwas getan. Manchmal erfreute er sich an der Erinnerung, manchmal verdrängte er sie. Nun verspürte er Angst bei dem Gedanken an die Enthüllung und die mögliche Strafe, und er verstand instinktiv, dass in diesen unergründlichen Blicken der Jungen eine Kraft lag, gegen die er nichts auszurichten vermochte. Er hatte geglaubt, den verfluchten Anton erschrecken zu können. Doch alle Jungen der Stadt waren seine Mitwisser, Hunderte von ihnen, die ganze Zeit neue Gesichter, ein unberechenbares Volksgericht; die Anklage kannte er genau, aber er hatte keine Ahnung von den Regeln dieses Gerichts oder die Art des Urteils. Die starrenden Blicke verfolgten ihn überallhin, zuletzt bis in die Dunkelheit seines Betts und seiner Träume – wie ein Wahnsinn, der drohte, seinen Verstand zu überschwemmen. Er konnte sie doch, verdammt noch mal, nicht alle erschlagen, obwohl seine Fäuste sich wie in alten Tagen ganz von allein zu öffnen und zu schließen begannen, als wäre etwas in ihm bereit. Er trank mehr als gewöhnlich und geriet in Webers Café häufiger in Schlägereien. So hatten die Fäuste erst einmal Beschäftigung.
    Der Genever schmeckte ihm nicht, und der Rigabalsam verlor seine heilsame Wirkung, für die er jahrhundertelang bei den Kapitänen Marstals berühmt war. Der Whisky, die Medizin überhaupt, hatte keine größere Wirkung auf ihn als Wasser. Seine Hände fingen an zu zittern, wenn er ein Glas zum Mund führte. Er mied Gesellschaft und trank allein.
     
    Eines Tages gab Herman auf und stapfte mit einem Seesack über der Schulter zur Fähre, um nach Kopenhagen zu fahren und in Jepsens Büro eine Heuer zu suchen. Auch das wussten die Jungen, als ob sie seine Gedanken lesen konnten. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen, aber als eine Art Abschiedsdelegation standen mindestens zwanzig bis dreißig von ihnen am Fähranleger.
    Mit dem gewohnten unergründlichen Schweigen blickten sie ihm nach, als Herman an Bord der Fähre verschwand.

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