Wir Ertrunkenen
des Meeres und all seiner Verlockungen. Niemals würde er herausfinden, ob die französischen Mädchen wirklich lebhafter waren als andere, ob die portugiesischen nach Knoblauch rochen und was Knoblauch überhaupt war. Er stand unter dem Altarbild des Marinemalers, das Jesus zeigte,
wie er seine Jünger vor dem Wüten des Sturms rettete. Doch Anton wollte nicht vor dem Meer gerettet werden, er wollte aufs Meer.
Als Pastor Abildgaard die Hand auf seinen Kopf legte, presste er die Augen hinter den Brillengläsern zusammen. Er war in der Hölle, und doch wünschte er sich nicht, im Himmel zu sein. Er fühlte sich als Heimatloser.
Regnar kehrte nach Hause zurück und warf einen Blick auf seinen Sohn.
«Zum Teufel», sagte er, «bist du noch nicht auf See? Ich habe dir übrigens einen Seesack gekauft.»
Anton sagte nichts. Er wartete auf den Spott.
«Ist es wegen der Brille?», fragte der Vater. «Das hast du jedenfalls nicht von fremden Leuten. Ich bin so kurzsichtig, dass ich nicht weiter als bis zu meinem Bierbauch sehen kann. Hat nur noch keiner gemerkt.»
Er lachte laut auf.
«Man kann kein Seemann werden, wenn man eine Brille trägt», sagte Anton in einem Ton, als würde er einem Kind etwas erklären.
«Nein», entgegnete der Vater ungerührt, «wenn du dein Leben an Bord eines erbärmlichen Schoners vergeuden willst, dann kannst du nicht mit ’ner Brille kommen. Aber werd stattdessen ein richtiger Seemann, werd Maschinenmeister auf einem Dampfer. Da fragt dich niemand nach deiner Brille.»
Anton kam in die Lehre bei Hans Baldrian Ulriksen, dem Schmied von Ommel. Er lernte zwischen Senkhammer und Setzhammer, Lochhammer, Stempelhammer und Beschlaghammer zu unterscheiden. Er wusste, ob ein Pferd Keileisen oder Rundeisen brauchte. Er konnte mit Wirkeisen, Reißeisen, Feile und Raspel umgehen, so wie er früher mit dem Kopf des Ermordeten oder Alberts Stiefeln umgegangen war. Sie nannten ihn den «Pferdefreund». Er baute sich ein eigenes Fahrrad, mit dem er jeden Abend die drei Kilometer bis Marstal fuhr, um auf die technische Schule zu gehen. Er hatte eine Freundin, die ebenso rothaarig war wie er. Sie hieß Marie und schnitt sich jede Woche ihr Haar selbst, weil sie nicht wollte, dass es zu lang wurde. Anton hatte beobachtet, wie sie einem
Jungen die Nase blutig schlug, weil er sie mit ihrem roten Haar aufgezogen hatte. Hinterher war Anton ritterlich auf sie zugegangen, um ihr zu erklären, dass sie die Faust falsch hielt, wenn sie zuschlug. Der Daumen durfte nicht in der geballten Faust liegen, sondern darauf.
Marie war ein rücksichtsvolles Mädchen. Wenn sie den ekelhaften Sterne-Jens ärgerten, der am Markt wohnte, warf sie Backsteine an seine Tür wie alle anderen auch. Aber sie packte die Steine vorher in ein Rhabarberblatt, damit die Tür nicht verkratzt wurde.
Anton machte eine Entdeckung. Hatte er ein Pferd beschlagen, fühlte er das gleiche seltsame Sausen in seinem Kopf, das er nur als Anführer der Albert-Bande gekannt hatte, wenn er, wie häufig mit zerschlagenen Gliedern und blutenden Wunden an Kopf und anderen Stellen, wo ihn ein Pfeil oder ein Stock getroffen hatte, das Schlachtfeld verließ. Dann hatte er in der unkartografierten Dunkelheit seines Gehirns das Gefühl, als würde sich ein großes Segel mit Wind füllen und mit einem Knall entfalten.
Als er die Brille bekam, war er überzeugt, nie wieder dieses Triumphgefühl zu erleben, das das Wissen um die eigene Macht ihm gab. Nun hatte er die Macht über andere Menschen mit der Macht über Dinge getauscht. Es war eine andere Art von Triumph, wenn er den Nutzen seiner Hände Arbeit sah. Er fühlte sich wie jemand, der für das Funktionieren der Welt mitverantwortlich ist.
«Präzision ist die Seele der Mechanik, und derjenige, der die Mechanik beherrscht, herrscht über mehr als nur sie», erklärte der Schmied, der ein belesener Mann war und es liebte, sich in philosophischen Wendungen auszudrücken.
Anton hatte einen Kurs gefunden, und er steuerte danach.
Eines Tages standen auch Knud Erik und Vilhjelm in der Kirche und wurden konfirmiert. Sie öffneten den Mund und starrten an die Decke auf die Schiffsmodelle mit ihren schwarz lackierten Rümpfen. Dort hing ihre Zukunft. Und wie Pastor Abildgaard es ihnen beigebracht hatte, sangen sie – wie Generationen vor ihnen – den alten Psalm, der dem Seemannsstand zugedacht war: über die Vergänglichkeit von Schiffsplanken, Gottes Stärke und die eigene Ohnmacht.
«Das
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