Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Er ging nicht wie sonst sofort nach oben in den Salon, um eine Zigarette zu rauchen und auf diese Stadt zu schauen, die er hasste und an die er doch auf so unerklärliche Weise gebunden war. Er blieb im Dunkel des geschlossenen Wagendecks, bei den Pferdefuhrwerken und Lastautos, im Gestank nach Motoröl und Mist, bis er sicher war, dass er von Land aus nicht mehr gesehen werden konnte.

    Er bemühte sich, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu halten, als er endlich den Salon betrat und sich die erste Zigarette anzündete.
     
    Die Idee war Knud Erik auf eine sehr einfache Weise gekommen. Er hatte sich gefragt, was ihm eigentlich am unangenehmsten war, und dann hatte er gedacht, dass es Herman ebenso gehen müsse. Prügel zählten nicht, das befand sich außerhalb ihrer Möglichkeiten, außerdem war er sich nicht sicher, ob Herman überhaupt etwas gegen eine Schlägerei hatte, selbst wenn er am meisten abbekommen würde. Es gab eine andere Erfahrung, die sich in Knud Eriks Seele eingebrannt hatte. Die Erinnerung an den Blick, mit dem seine Mutter ihn nach dem Tod seines Vaters angesehen hatte. Er konnte diesen Blick nicht vorwurfsvoll nennen. Sie hatte ihn lediglich stumm und prüfend angeschaut, und dieser Blick war ihm überall mit einer offenen Frage gefolgt, die er nicht beantworten konnte.
    Was wollte sie?
    Das Gewicht dieses Blicks, der alles, was er tat, mit einem Fragezeichen versah, ohne dass ihm eine Alternative angeboten wurde, hatte ihn niedergedrückt. Das war es: Jemand starrte einen permanent an, und ständig hatte man die Absicht dieses Blicks zu erraten; man sollte begreifen, dass keine Antwort jemals die Bürde erleichtern würde.
    Knud Erik stellte sich einfach vor, dass er diese Last an Herman weitergab, dass die vage Anklage der Blicke selbst diesen abgebrühten und skrupellosen Mörder zusammenbrechen lassen würde, der bereits als Kind einen Menschen umgebracht hatte.
    Herman würde nie erfahren, was ihm eigentlich widerfuhr. Das war das Beste daran, denn natürlich hatte Knud Erik den Jungen, die er anstiftete, an Hermans Verfolgung teilzunehmen, den eigentlichen Grund ihres Rachefeldzugs nicht anvertraut. Es wäre viel zu riskant gewesen, sie alle in das Geheimnis des Mordes an Holger Jepsen einzuweihen. Möglicherweise hätten sie gefragt: «Wer ist Jepsen?», und sich blöderweise mit ihrer Frage an einen Erwachsenen gewandt; dann wäre der Ärger da gewesen. Nein, Knud Erik war auf eine ganz andere Idee gekommen. Er hatte sie in Antons Garten mitgenommen und vor ihren Augen Tordenskjold ausgegraben. Er hatte ihnen den schlaffen Hals gezeigt, die toten Augen, den aufgesperrten Schnabel, die gebrochenen Flügel, die ihres Glanzes beraubten Federn. Den Körper voller Würmer.

    «Seht her», hatte er gesagt, «das hat Herman getan.»
    Und die Jungen hatten sich gewünscht, den Möwenmörder in einen blutigen Klumpen verwandelt zu sehen, der ihnen zu Füßen lag. Seine Knochen sollten zu Knochenmehl zermahlen, seine Haut abgezogen und an einen Baum gehängt, seine Eingeweide durch die Straßen geschleift werden. Doch Knud Erik hatte ihnen etwas weit Besseres vorgeschlagen. Sie sollten sehen, wie Herman zu jemandem wurde, den man nicht mehr als Mann bezeichnen konnte. Sie sollten sehen, wie seine Hände vor Angst zitterten.
    Die Augen, die den unheimlichen Totschläger überall verfolgten und anstarrten, waren nichts anderes als die Imitation des besorgten, ernsten Blicks einer Mutter.
    Nein, Herman würde nie erraten, was ihn eigentlich aus der Stadt getrieben hatte. Es war nicht der Mord an einem Mann, dessen wir ihn anklagten.
    Es war der Mord an einer Möwe.

    Die Hornbrille saß noch immer mitten in Antons Gesicht, und noch immer hatte er keine Zukunft. Der «Ausländer» war noch nicht wieder heimgekehrt; es hieß, er käme im Sommer, doch in der Zwischenzeit wartete die Konfirmation. Ohne sich mit seiner Mutter abzusprechen, ging Anton zu seiner Klassenlehrerin, Fräulein Katballe, und erklärte ihr, dass er nun, nach sieben Jahren, die Schule verlassen würde. Es sei der schönste Tag ihres Lebens, bekam er zur Antwort. Anton verbeugte sich mit unerwarteter Höflichkeit und erwiderte: «Danke, gleichfalls.»
    Er wurde konfirmiert und schwor öffentlich dem Teufel und allen seinen Geschöpfen ab. Er wusste nicht, ob die Hölle mit dem Sengen des Feuers oder dem Nagen des Wurms gleichzusetzen war. Er wusste nur, dass er sich bereits dort befand, denn die Hölle war ein Leben fern

Weitere Kostenlose Bücher