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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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böse Meer wird unser Grab,
Wenn du nicht bei uns bist.
Wenn Sturm und Wellengang
Und Blitze uns umtosen,
Sei du an Bord und sprich ein Wort –
Und ruhig wird es werden.»
    Knud Erik schielte hinüber zu Vilhjelm. Er hatte erwartet, dass der den Mund gar nicht erst aufmachte. Während des Konfirmationsunterrichts hatte er es nicht getan. Doch nun sang er mit. Er stotterte nicht. Er stimmte mit den anderen ein, und es schien, als ob der Psalm ihm über die Hürden der Worte half. Vilhjelm schien es nicht zu bemerken, aber Knud Erik hörte es und änderte seine Ansicht über den Kirchengesang.
    Irgendein Wunder Gottes war es allerdings nicht. Auf dem Weg nach Hause stotterte Vilhjelm genau so wie vorher.
     
    Wir wussten es nicht, doch wir waren die Letzten. Unsere Kinder würden nicht mehr in der Kirche stehen und den Psalm singen, und sie würden auch nicht auf dem Deck eines Schoners stehen und von der Gnade des Windes abhängig sein. Sie würden in alle Ecken dieser Welt reisen, aber nicht mehr mit der Kraft des Windes.
    Alles passierte nun zum letzten Mal. Zum letzten Mal wurden die Segel gesetzt. Zum letzten Mal lag der Hafen voller Schiffe, und weil es das letzte Mal war, kam es genauso, wie Frederik Isaksen es vorausgesagt hatte: Uns blieben nur die schlimmsten Reisen, die ungastlichsten Küsten und die aufgewühltesten Meere.
    Aber wir waren jung. Wir wussten es nicht. Für uns passierte alles zum ersten Mal.

DER SEEMANN
    D er Steuermann an Bord der Activ duldete keine Schwäche, und wenn er zuschlug, dann jedes Mal gezielt. Er schlug dorthin, wo es am meisten wehtat, und er schlug mit geballter Faust. Allerdings war Anker Pinnerup kein starker Mann. Er war Ende vierzig und näherte sich dem Alter, in dem ein Seemann an Land geht. Die Gicht und der Alkohol hatten ihn gezeichnet, er war ein Schläger ohne Muskeln.
    Pinnerup war unter dem Namen «der Alte» bekannt, ein Spitzname, der an Bord eines Schiffs eigentlich dem Kapitän vorbehalten ist, aus Respekt vor seinen Kenntnissen und seiner Erfahrung. In Pinnerups Fall war es nicht freundlich gemeint, sondern zielte auf die deutlichen Zeichen seiner beginnenden Hinfälligkeit. Aus seinem grauen Bart stach ein spitzes, glatt rasiertes Kinn hervor wie der hoch aufgerichtete Vordersteven eines Schiffs, das in einem Meer aus Schmutz und Verkommenheit versinkt. Das glatte Kinn war allerdings auch der einzige Beweis, dass er sich überhaupt um seine persönliche Hygiene kümmerte. Unter einer Mütze, die vor Dreck starrte, klebten ein paar Haarzotteln von unbestimmter Farbe an seiner ungewaschenen Kopfhaut. In dem vom Bart halb verdeckten Mund steckte stets eine zerbrochene Meerschaumpfeife, die von ein paar Holzsplittern zusammengehalten wurde, die er mit Segelmachergarn umwickelt hatte. Hinter seinem Rücken flüsterten die Matrosen, dass seine Jacke und Hose an Orgien in Finnmarken erinnern würden: Lappen auf Lappen.
    Als Knud Erik ihm zum ersten Mal Kaffee brachte und hinterher Tasse und Untertasse in die Abwaschschüssel legen wollte, stieß Pinnerup ein Brüllen aus und versetzte Knud Erik einen Kinnhaken. Kaffeetasse und
Untertasse waren sein persönliches Eigentum, das niemand anzufassen hatte. Und wie um seinen sorgfältigen Umgang mit seinem Eigentum zu beweisen, spuckte er in die Tasse und begann sie mit seinem dreckigen Daumen sauber zu wischen.
    «Schmutzfink», fluchte er, «Mistvieh, Rotzbengel, Höllengezücht.»
    Jeden zweiten Morgen, wenn er auf Wache war und Knud Erik wecken musste, tauchte er mit einem dicken Tampen im Mannschaftslogis auf. Er blieb einen Moment stehen, um seine Kräfte zu sammeln, und schlug dann auf den schlafenden Jungen ein. Er zielte auf den Kopf, aber durch die schräge Unterkoje war es unmöglich, einen ordentlichen Treffer zu erzielen oder wirklich Kraft in die Schläge zu legen. Knud Erik erwachte beim ersten Schlag, rollte ans Schott und kroch ans Fußende der Koje, wo der Steuermann ihn nicht erreichen konnte. Er gab keinen Ton von sich. Etwas in ihm wusste, dass es eine Niederlage wäre, die er nur schwer ertragen könnte, wenn er seine Angst verriet.
    Später tauchte ein paar Minuten vor dem Steuermann immer der Jungmann auf. Es war Olav, den Knud Erik noch von der Albert-Bande kannte. Olav stupste ihn an die Schulter.
    «Aufstehen», flüsterte er.
    Dann legte Knud Erik das Kopfkissen und die Decke so zurecht, dass man sie im Halbdunkel durchaus mit seiner schlafenden Gestalt verwechseln konnte. Der Steuermann

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