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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Nebel, der sich gegen Mittag verzog und wie eine Mauer am Horizont stand; über dem restlichen Himmel schien
die Sonne. Dann kam der Nebel zurück, die Segel wurden dunkelgrau vor Feuchtigkeit, und schwere Tropfen klatschten auf das Deck. Mal sahen sie den Himmel, dann konnten sie nicht einmal die Nock des Außenklüvers ausmachen.
    Am dritten Nebeltag hatte Knud Erik gerade den Rudergänger abgelöst, als der Nebel sich erneut hob. An Backbord sah er hohe, eisbedeckte Berge. Zu seiner Überraschung waren sie nicht weiß, sondern blau, lila und von einem beinahe durchsichtigen Meeresgrün. Einer der Berge türmte sich auf wie ein gigantisches aufrecht stehendes Quadrat mit einer flachen Spitze und Hörnern, die im rechten Winkel abstanden. Der Berg sah aus, als hätten Menschenhände ihn geformt. Er erschien ihm so unnatürlich, dass ihm ganz unheimlich zumute wurde. Er hatte nie etwas anderes gesehen als die niedrigen, flach gescheuerten Felsküsten Skandinaviens, schon gar nicht diese wilde, chaotische Welt aus Eis und Schnee.
    «Grönland in Lee, wir haben Grönland in Lee!», schrie er und hörte sein eigenes Entsetzen.
    Kapitän und Steuermann hasteten aus der Kajüte. Bager starrte einen Augenblick auf die imposante, auf sie einstürzende Berglandschaft.
    «Das ist nicht Grönland», stellte er fest. «Das sind Eisberge.»
    Er wies mit einer Bewegung zum Horizont. Auch an der Luvseite tauchten Eisberge auf, jetzt in verstreuten Formationen, die jede Illusion über eine zusammenhängende Küstenlinie zerstörten. Dann kehrte der Nebel zurück, und wieder waren sie an Deck sich selbst überlassen.
    Der Kapitän schaute besorgt vor sich hin. Seine eingefallenen Wangen wirkten noch bleicher als sonst.
    «Nun sind wir in Gottes Hand», sagte er.
     
    Die Nebelbank hielt sich vierzehn Tage. Es gab nicht viel Wind, und die feuchten Segel hingen die meiste Zeit schlaff herunter. Die langen Wellen des Atlantik liefen ohne Kräuseln in einem langsamen Rhythmus unter dem verwundbaren Rumpf der Kristina entlang. Das Wasser wirkte ölig glatt, als ob es sich in der feuchten Kälte verdicken und zu Eis werden wollte. Um sie herum herrschte absolute Stille, und Knud Erik dachte anfangs, es sei der Nebel, der sämtliche Geräusche dämpfte, ebenso wie er allen die Sicht nahm. Dann wurde ihm klar, dass die Besatzung im
Nebel nur flüsterte. Als wären die unsichtbaren Eisberge, die die Kristina von allen Seiten umgaben, böse Geister, deren Aufmerksamkeit man nicht erregen durfte. Die Stille setzte ihnen zu, dennoch wagte es niemand, sie zu brechen. Knud Erik überlegte, ob der Herrgott sie inmitten dieses dichten Nebels wohl sehen und seine Hand über sie halten mochte, so wie der Kapitän es hoffte.
    Als sich der Nebel schließlich lichtete und sie ein eisfreies Meer um sich herum sahen, brachen sie in Gebrüll aus. Sie hätten Hurra! rufen können, aber sie taten es nicht. Es war ein unbestimmtes Brüllen, nur um den Klang ihrer eigenen Stimmen zu hören. Jeder war für sich in dieser Stille eingeschlossen gewesen, isoliert voneinander, nun gehörten sie wieder zusammen. Kein Eisberg lag mehr auf der Lauer, sie durften brüllen.
    Einen Tag später kam die Küste von Neufundland in Sicht. Seit Island waren sie vierundzwanzig Tage unterwegs gewesen.
     
    Als sie Little Bay angelaufen hatten, ruderte Knud Erik den Kapitän an Land. Er wollte mit den Maklern und der Hafenbehörde reden und befahl Knud Erik zu warten. Als er zurückkam, hatte er einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Knud Erik legte die Riemen ein und ruderte auf die Kristina zu.
    «Tja, Knud Erik», sagte Bager in einem vertraulichen Ton, den Knud Erik nicht gewohnt war. Der Kapitän wandte sich sonst nur an ihn, wenn er ihm einen Befehl gab.
    «Die Ane Marie ist nicht angekommen.»
    Die Ane Marie war ein Schoner aus Marstal, der acht Tage vor der Kristina in Island abgelegt hatte. Der Kapitän seufzte und schaute übers Wasser.
    «Dann ist sie sicher verloren. Wahrscheinlich auf einen Eisberg aufgelaufen.»
    Er blickte weiterhin übers Wasser und schwieg den Rest der Fahrt.
    Vilhjelm – er fiel Knud Erik bei den Worten des Kapitäns als Erster ein. Vilhjelm war an Bord der Ane Marie. Er sah hinunter auf seine Hände, die sich um die Riemen klammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er tat einen gewaltigen Zug, als wollte er die Betäubung abschütteln, und wäre beinahe von der Ruderbank gefallen.

    «Pass auf, wohin du ruderst», ermahnte ihn

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