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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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auf.
    Pinnerups Gesichtszüge erstarrten.
    «Kommt schon, worauf wartet ihr?», fragte er und hob ein Bündel Steine vom Deck auf.
    Die Schauermänner sahen sich an und zwinkerten. Einer von ihnen schlug Knud Erik auf die Schulter und bot ihm eine Zigarette an. Dann stellten sie sich auf ihre Plätze und bildeten wieder eine Kette.
    Knud Erik blieb auf der Kaimauer sitzen. Es war die erste Zigarette seines Lebens. Er inhalierte, ohne zu husten. Er schaute auf seine Hand, die die Zigarette hielt. Jeder einzelne Finger wies eine lange, schmerzhafte
Wunde auf. «Seeschrunden» hießen sie bei ihnen. Das Salzwasser und das steife Tauwerk rissen die dünne Haut zwischen den Fingern auf.
    «Piss drauf!», hatte Boutrup gesagt. «Das reinigt. Und dann mach dir ein Takling aus Wollgarn. Das hält die Risse zusammen.»
    Die Sonne schien Knud Erik ins Gesicht, und er verspürte ein plötzliches Wohlbehagen.

    Als er von der Activ abmusterte, fragte seine Mutter nach dem Füllfederhalter. Sie hatte ihm einen zur Konfirmation geschenkt, damit er nach Hause schreiben könnte.
    «Viel Freude hast du daran offenbar nicht gehabt», stellte Klara fest.
    Knud Erik hatte zur Konfirmation außerdem ein Kopfkissen, eine Ober- und Unterdecke mit den dazugehörigen Bezügen sowie fünfundachtzig Kronen geschenkt bekommen. Die holzbesohlten Stiefel hatten fünfundvierzig Kronen gekostet, dafür würden sie aber auch ein Leben lang halten, erklärte der Schuhmacher. Sein Ölzeug kaufte er bei Lohse in der Havnegade, dort besorgte er sich auch ein zusammenklappbares Löwenmesser mit weißem Elfenbeingriff. Die Tangmatratze hatte zwei Kronen gekostet, außerdem hatte er eine grün lackierte Schiffskiste mit flachem Deckel erworben. Die Arbeitskleidung bestand aus einem Pullover und einer Hose aus Moleskin. Damit war er komplett ausgerüstet und die fünfundachtzig Kronen bis auf die letze Öre los.
    Im Lauf der fünfzehn Monate, die er fort gewesen war, hatte er seiner Mutter zweimal geschrieben. In beiden Briefen stand das Gleiche: «Liebe Mutter, es geht mir gut.»
    Er hatte nicht schreiben können, als sich Zweifel in ihm regten, ob seine Entscheidung, zur See zu gehen, richtig gewesen war. Damit hätte er ihr doch recht gegeben, wenn sie ihm erklärte, dass das Seemannsleben roh und erbärmlich sei. Er hatte ihr aber auch nicht schreiben können, als seine Zweifel überwunden waren, denn dann wäre klar gewesen, dass er seinen Entschluss gefasst hatte: Er wollte Seemann werden.
    Er versteckte sich in seinen Briefen. Zwischen dem einleitenden
«Liebe» und dem abschließenden «liebe Grüße» gab es nichts als Schweigen.
    Sie begriff, dass er ein erwachsener Mann geworden war. Doch sie sah mehr als nur das. Denn mit jedem Zentimeter, den Knud Erik in die Höhe schoss, entfernte er sich von ihr. Fast schien es, als wüchse er aus Trotz und Ungehorsam. Immer deutlicher zeichneten sich die Züge seines Vaters in seinem Gesicht ab. Er hatte dessen helles, lockiges Haar und das kräftige Kinn. Doch er besaß die braunen Augen seiner Mutter, und wenn sie ihn in einem unbeobachteten Moment betrachtete, spürte sie, dass sie noch immer im Besitz eines Pfandes war. Wenn er auch nur einen Hauch von Verstand besaß, würde er früher oder später des Seemannslebens überdrüssig werden.
    Es hatte keinen Sinn, ihm etwas sagen zu wollen oder ihn unter Druck zu setzen. Stattdessen servierte sie ihrem Sohn in den Monaten, in denen er zu Hause war und auf seine nächste Heuer wartete, seine Leibgerichte. Eine unvermutete Herzlichkeit entstand zwischen ihnen, doch Klara spürte, dass er sie missverstand. Knud Erik glaubte, sie habe seine Wahl endlich akzeptiert. Er zeigte ihr die Narben der Seeschrunden und Salzwasserbeulen und erzählte von dem abstoßenden Pinnerup. Es war sein neu erworbener Status als erfahrener Seemann, den er ihr stolz präsentierte.
    «Dann bist du inzwischen hoffentlich klüger geworden!»
    Ihr Ton war scharf. Wut stieg in ihr auf, als sie sah, was das Meer aus ihm gemacht hatte. Die Worte brachen aus ihr heraus, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte. Sie hörte, wie verzweifelt ihre eigene Stimme klang.
    Knud Erik schaute sie an und erwiderte nichts; er ging auf Distanz. Sie las es in seinem Blick: Du verstehst nichts.
    Nein, sie verstand nichts. Sie spürte ihre eigene Ohnmacht. Die Herzlichkeit, die eine Weile zwischen ihnen geherrscht hatte, war verschwunden. Sie wurden sich wieder fremd und nahmen die gemeinsamen

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