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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Bager.
    Seine Stimme klang abwesend, nahezu sanft.
     
    Am Abend lag Knud Erik in der Koje und trauerte um Vilhjelm. War Vilhjelm zweimal aufgetaucht? Oder war er sofort untergegangen, herabgezogen von den holzbeschlagenen Stiefeln und dem schweren Ölzeug? Was hatte er zuletzt gesehen? Blasen im Wasser? Oder das erstarrte Chaos des Eisbergs? Er erinnerte sich an den unnatürlich viereckigen Eisberg, den er am ersten Tag ihrer Fahrt entdeckt, und an das unheimliche Gefühl, das er in ihm geweckt hatte. War es derselbe Eisberg, auf den die Ane Marie gelaufen war? Was hatte Vilhjelm sich gedacht? Hatte er um Hilfe gerufen? Aber wieso sollte er das tun? Es gab ja niemanden, der ihnen dort draußen auf dem offenen Nordatlantik hätte helfen können.
    Er dachte an den Konfirmationsunterricht, das Ende ihrer Kindheit, als sie jeden Sonntag in der Kirche unter den Schiffsmodellen saßen, die an schweren Stahlseilen von der Decke hingen und ein Symbol des Christenheils waren. Er hatte zum Altarbild hinaufgesehen, auf dem Jesus mit einer Handbewegung das Wasser nach dem Sturm auf dem See Genezareth glättete. Er hatte die alten Psalmen gesungen, die die Konfirmanden auswendig lernen sollten, da man sie einst in Gedanken an die Seeleute geschrieben hatte.
    «Der Wolken, Luft und Winden,
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.»
    So hatten sie gesungen. Ob Vilhjelm in den letzten Minuten, bevor das Schiff unterging, sang? Oder war das Gleiche passiert, was Knud Erik so oft vor der Altartafel mit ihrem Gemälde von Jesus auf dem See Genezareth widerfuhr? Dass ihm Zweifel kamen?
    Wo war der Herrgott gewesen, als die Hydra mit seinem Vater spurlos verschwand? Möglicherweise war der Herrgott wie Vilhjelms Vater? Vielleicht kehrte er uns den Rücken zu und hörte nichts, wenn es wirklich darauf ankam?

    Es war Zufall, wer nach Hause zurückkehrte. Knud Erik konnte keinen Sinn darin sehen, und er dachte, so musste es Vilhjelm ergangen sein, als er schließlich doch unterging: Der Herrgott war taub und hörte ihn nicht.
     
    Der Laderaum musste gesäubert werden, damit alles bereit war für den Klippfisch. Sie spülten und schrubbten fünf Tage. Dann wurde der Boden mit einer dicken Lage Tannenzweige bedeckt. Darauf kam Birkenrinde. Auch die Seitenwände des Laderaums verkleideten sie mit Birkenrinde, die mit Nägeln befestigt wurde. Es roch intensiv und frisch, ein ungewohnter Duft nach Gebirge und Wald. Als würde eine Hütte am Boden des Schiffs gebaut. Der Klippfisch war ein vornehmer Gast, und nun war seine Unterkunft vorbereitet und wartete auf ihn.
     
    Jeden Vormittag ereignete sich etwas, das für einen Augenblick die einförmige Routine des Ladens unterbrach. Ein Boot wurde nahe an der Kristina vorbei durch den Hafen gerudert. An den Riemen saß ein junges Mädchen mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren, die den Blick auf den Nacken freigaben. Sie war sonnengebräunt und hatte volle Lippen, asiatische Augen und kräftige Brauen. Sie ruderte wie ein Mann, mit langen, kraftvollen Schlägen, und kam rasch voran. Ihr Blick war auf die Kristina gerichtet. Die Besatzung stand an der Reling und beobachtete sie. Sie schaute nicht weg. Als ob sie nach einem bestimmten Gesicht suchte.
    Nach ein paar Tagen war Knud Erik überzeugt, dass sie nach ihm Ausschau hielt. Ihre Blicke trafen sich, und er wurde rot und musste wegsehen.
     
    Rikard und Algot unterhielten sich nachher über sie. Sie hatte einen locker sitzenden Pullover und eine Moleskinhose getragen, so dass es schwer fiel, etwas über ihren Körper zu sagen. In jedem Fall aber wirkte sie schlank, so viel hatten sie erkennen können, und das führte rasch zu weiteren Mutmaßungen.
    Aufgrund ihrer dunklen Augen und ihres asiatischen Aussehens vermuteten sie, dass sie von der Mösenstiege stammte.

    «Das ist die Leiter, auf der die Huren in Bangkok die Schiffe entern», erklärte Rikard.
    Knud Erik sagte nichts. Er dachte über den Blick nach, den er mit dem Mädchen gewechselt hatte, und errötete jedes Mal aufs Neue, wenn er in Gedanken nachvollzog, wie ihre Augen auf ihm ruhten.
    Am meisten dachte er jedoch an Vilhjelm. Nachts konnte er nicht schlafen, und auch tagsüber ging er ihm im Kopf herum.
     
    Am nächsten Tag winkte Dreymann dem Mädchen zu. Sie winkte zurück, und das entspannte die Situation. Sie ruderte immer dieselbe Strecke, bis zu einer Klippe, hinter der sie verschwand. Ein paar Stunden später tauchte sie wieder auf,

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