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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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doch nun kam sie nicht so nahe ans Schiff und schaute auch nicht in dessen Richtung. Stattdessen starrte sie vor sich hin und legte sich kräftig in die Riemen.
    Auch die Frage, wohin sie wollte und was sie an der Klippe tat, gab Anlass zu Diskussionen. Rikard nahm einen Zug aus seiner Zigarette und meinte, sie hätte einen Liebhaber, den sie dort traf. Dreymann wies das als Unfug zurück.
    «Seht sie euch an», sagte er, «sie ist nicht älter als sechzehn, siebzehn Jahre.»
    Rikard erwiderte, dass sie in Neufundland früh anfangen; er sah aus, als würde er gern über den Hintergrund seiner Kenntnisse der Mädchen auf Neufundland befragt werden.
    Dreymann vertrat die Ansicht, das Mädchen gehe zum Klavierunterricht.
    «Auf der Klippe?», fragte Rikard spöttisch.
    Zumindest wussten sie, wer sie war, nämlich die Tochter von Mr. Smith, einem stattlichen, kräftig gebauten Mann, der stets in Knickerbockern und schottisch karierten Strümpfen herumlief. Er wohnte in einer großen Villa aus grün gestrichenem Holz, die auf einem kleinen Hügel hinter der Stadt lag. Mr. Smith war der Verlader des Klippfischs, weshalb sie davon ausgingen, dass er Little Bays mächtigster Mann war.
    Ab und zu kam er an Bord, sprach aber nie mit jemand anderem als Bager. Manchmal warf er einen Blick auf Knud Erik, sagte jedoch nichts.
    Eines Tages verließ er nach einem weiteren Besuch in der Kajüte des
Kapitäns die Kristina, wie gewöhnlich ohne ein Wort an die Besatzung zu richten. Bager tauchte direkt nach ihm an Deck auf und ging auf Knud Erik zu. Er stellte sich mit den Händen auf dem Rücken vor ihn. Dann beugte er sich vor und sagte mit tiefer Stimme, als hätte er Angst, nicht verstanden zu werden: «Miss Smith würde gern von dir besucht werden. Morgen um vier Uhr. Du bekommst Landurlaub.»
    Knud Erik schwieg.
    Bager beugte sich noch weiter vor.
    «Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Es kommt ein Mann aus Mr. Smiths Büro und holt dich ab.»
    Knud Erik nickte.
    «Also gut», sagte der Kapitän und ging. Plötzlich blieb er stehen, als gäbe es noch etwas, das er zu übermitteln vergessen hatte.
    «Pass auf bei dieser Göre.»
    Er sah Knud Erik warnend an. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging mit eiligen Schritten fort, als hätte er gerade etwas Peinliches hinter sich gebracht.
    Die anderen hatten nicht mitbekommen, was geschehen war, und so machte auch niemand Bemerkungen. Knud Erik konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte keine Angst vor Mädchen, er musste ja oft genug auf seine kleine Schwester aufpassen. Aber erst als Anton einen Blick auf Marie geworfen hatte, war ihm klar geworden, dass Mädchen auch etwas anderes sein konnten als nur Kameraden. Er wusste nicht, was Miss Smith wollte, aber er hatte Angst, dass ihr Interesse ihn vielleicht als «mädchenhaft» abstempeln könnte. Er würde sich von den anderen unterscheiden, und wenn es etwas gab, was er auf gar keinen Fall wollte, dann – sich unterscheiden.
     
    Am nächsten Tag wurde Knud Erik kurz vor vier abgeholt. Rikard und Algot gafften und riefen ihm Bemerkungen nach. Nur sein Begleiter ignorierte ihn auf dem ganzen Weg bis zur grün gestrichenen Villa, als wäre auch ihm die ganze Geschichte peinlich. Er machte den Eindruck, als würde er am liebsten mit all dem nichts zu tun haben. Als sie das Haus erreichten, ließ er Knud Erik ohne ein Wort stehen.
    Knud Erik trat auf die Veranda und klopfte vorsichtig an die Tür. Eine ältere Dame in einem langen altmodischen Wollkleid öffnete ihm und
führte ihn durch eine große Vorhalle in ein angrenzendes Wohnzimmer. Bisher hatte niemand auch nur ein Wort von sich gegeben. Sie schloss die Tür, und Knud Erik war allein. Auf einem kleinen von einem Tuch bedeckten Tisch war der Tee vorbereitet. Neben den Tassen und einer Teekanne aus Silber stand eine Porzellanschale mit Keksen. Knud Erik blieb an der Tür stehen, unsicher, ob er sich auf einen der gepolsterten Stühle setzen sollte. Da noch immer nichts passierte, begann er auf und ab zu gehen und nahm zerstreut einen Keks aus der Schale.
    In diesem Moment wurde hinter ihm die Tür geöffnet. Er drehte sich erschrocken um und versteckte die Hand mit dem Keks auf dem Rücken. Es war das Mädchen aus dem Ruderboot.
    Sie trug nicht mehr den Pullover und die Männerhose, sondern ein Kleid, was ihn auf der Stelle beunruhigte. Ähnlich erging es ihm auch mit ihrem Gesicht, das er nun wesentlich deutlicher sah als bisher. Ihre Augenpartie war jetzt weitaus

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