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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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presste sich an die Mauer eines Hauses. Aber hier war er wahrscheinlich ebenso sichtbar, eine verdichtete schwarze Masse an einer bläulich schimmernden Mauer.
    Er war nicht gekommen, um sich zu verstecken. Er trat mitten auf den Bürgersteig und marschierte los.
    Plötzlich hörte er Schritte. Er blieb stehen. Sie klangen taktfest. War es einer, oder handelte es sich um mehrere? Wieder horchte er. Es war jedenfalls keine Gruppe, beschloss er. Vielleicht waren es nur zwei? Soldaten
auf Nachtpatrouille? Wer sonst sollte sich nach Einbruch der Dunkelheit in einer Stadt bewegen, in der Ausgangssperre herrschte? Herman sah die breite Straße entlang. Die Straße war breit. Er konnte die Kronen der Palmen erahnen, von denen die Sterne verschattet wurden. Er befand sich offenbar auf einem der Boulevards. Er sollte die schmalen, gewundenen Gassen aufsuchen, in denen man leichter entkommen konnte. Unentschlossen blieb er stehen. Dann hob er den Revolver und drehte sich langsam um die eigene Achse. Dunkelheit, nichts als Dunkelheit. Er hörte die Schritte. Gleichmäßig und im Takt. Kamen sie näher, oder entfernten sie sich?
    Zögernd lief er weiter. Wieder hielt er den Revolver im Anschlag. Begegnete er ihnen, hieß es er oder sie. Das war ihm bewusst.
    Weiterhin Schritte.
    Ja, sie kamen ganz sicher näher, aber er konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung. Er konnte ebenso gut auf dem Weg zu ihnen sein oder sich von ihnen entfernen.
    Herman ging weiter geradeaus, dann sah er sie. Sie standen direkt vor ihm, nur drei, vier Meter entfernt, als ob sie auf ihn gewartet hätten. Er hielt auf der Stelle inne.
    Einer von ihnen rief etwas.
    Der Ruf ging in einer ohrenbetäubenden Explosion unter. Herman spähte nach vorn, um die Ursache der Explosion zu erkunden, und schaute auf den Revolver, den er in der Hand hielt. Er hatte geschossen.
    Ihm blieb keine Zeit herauszufinden, ob er getroffen hatte, bevor er losrannte. Hinter sich hörte er weder Schritte noch Schüsse. Er war kurz davor, stehen zu bleiben und sich umzusehen, aber das Herz hämmerte wie wild in seinem Körper, und die Flucht hatte ihre eigene Dynamik. Er fühlte sich vollkommen klar im Kopf. Nur seine Beine arbeiteten wie Trommelstöcke. Sie hatten ihren eigenen Willen.
    Herman bog um eine Ecke und lief noch ein Stück weiter. Dann hatte er seine Muskeln wieder unter Kontrolle. Er blieb stehen und drückte sich an eine Mauer, während er in die Nacht hineinlauschte. Zunächst herrschte Stille. Dann vernahm er weit entfernt die Schritte von Laufenden. Sie kamen erst aus einer Richtung, dann aus einer anderen. Ein Schuss war zu hören, denn mehrere in rascher Reihenfolge, bis die
Schüsse zu einem langen Rattern verschmolzen, das von einem Maschinengewehr stammen musste. Nun waren auch Kommandorufe und das Trampeln von Stiefeln auszumachen, als ob sich ein ganzes Heer in Bewegung setzte. Irgendwo wurde der Motor eines Automobils angelassen.
    Mit seinem Revolverschuss hatte er die Stille durchbrochen, und es schien, dass der Schuss eine Mine losgetreten hatte, die nun explodierte – und die gesamte Stadt war diese Mine.
    Die verdunkelte Stadt kreiste ihn mit ihren Schusssalven ein. Mal nahm die Intensität der Salven zu, dann folgte abwartende Ruhe. Wer schoss auf wen? Feuerte das Militär auf die Streikenden, oder waren sie es, die die Schüsse beantworteten? Oder herrschte nur Chaos? War das die Revolution? Raubtiere, die sich in der Dunkelheit zusammenrotteten und fauchend mit ihren Klauen nacheinander schlugen, um sich dann wieder in den Schatten zurückzuziehen? Oder war die Revolution der Aufstand der Revolver, dieser Revolver, die nachts die Macht über ihre Besitzer ergriffen und ein mörderisches Gespräch begannen, das Blut riefen und lockten, damit es in den Straßen der Stadt anstieg wie eine Überschwemmung?
    Schossen sie aufeinander, um zu feiern, dass es nun kein Gut oder Böse mehr gab, weder eine Ordnung noch ihr Gegenteil, nur noch ungezügeltes Leben, eine Stadt aus Stein, bespritzt mit dem Symbol des Lebens, mit Blut?
    Wieder begann er zu laufen. Er hatte Schwierigkeiten beim Atmen, aber er hielt durch. Sein schwerer Körper rannte wie ein heranstürmendes Nashorn durch die Gassen. Irgendwo wurde auf ihn geschossen. Er hörte, wie eine Kugel in die Mauer hinter ihm einschlug. An einer anderen Stelle stieß er auf zwei Männer, die sich in einem Torweg versteckten. Er schoss hinein und setzte seinen wilden Lauf fort. Wer waren sie? Hatte er sie

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