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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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getroffen?
    Es war ihm egal.
    Herman sah eine Abteilung Soldaten heranmarschieren und fand eine schützende Toröffnung; kaum hatten sie ihn passiert, war er schon wieder draußen. Er drehte sich, während er rannte, um und feuerte einen Schuss in ihre Richtung.
    Irgendjemand hatte quer über die Straße eine Barrikade errichtet. Dahinter
bewegten sich Schatten. Die Dunkelheit war zu undurchdringlich, um festzustellen, was dort vorging, aber er wusste es instinktiv. Es war die Revolution, der Aufstand der Revolver, sie waren hier, um sich gegenseitig das Blut abzuzapfen. Es gab eine Brüderschaft zwischen den Soldaten und den Aufständischen. Die gemeinsame Lust zu töten vereinigte sie.
    Sie riefen ihn an. Er antwortete in seinem gebrochenen Seemannsspanisch. Sie forderten ihn auf, sich denen anzuschließen, die hinter den Barrikaden standen. Sie schlugen ihm auf die Schulter und nannten ihn compañero, als er ihnen seinen Revolver zeigte, ein Wort, das er gut verstand und so naiv fand wie sie selbst. Ihn kümmerte ihre Sache nicht. Sie brauchten ein Alibi, um ihre Revolver abzufeuern. Er nicht.
    Die Barrikade wurde beschossen. Sie antworteten mit Schüssen in die Dunkelheit. Herman sah das Mündungsfeuer der Revolver. Er spürte etwas Warmes an seiner Wange. War er getroffen? Dann sank der Mann neben ihm gegen seine Schulter. Der Kopf blieb einen Moment dort liegen, als wäre er eingeschlafen. Durch seinen Hemdsärmel sickerte Blut. Der Verletzte glitt langsam zu Boden.
    Die Schießerei nahm an Intensität zu. Am anderen Ende der Straße flammte das Mündungsfeuer auf wie ein Feuerwerk. Der Lärm war ohrenbetäubend und berauschend.
    Er spürte, wie eine wilde, trockene Hitze sich ihren Weg durch die Haut bahnte, als hätte das Herz Feuer gefangen: Er war am Leben!
    Die Schüsse kamen näher. Die Soldaten stürmten jetzt. Die Männer um ihn herum gaben die Barrikade auf und verschwanden in der Dunkelheit. Er selbst jagte mit verwegenen Sprüngen davon. Er hörte jemanden lachen, er war es selbst. Dann lag eine ausgestreckte Gestalt vor ihm auf der Straße. Mit einem Satz sprang er darüber hinweg. Irgendjemand packte ihn am Arm und zog ihn in eine Seitenstraße, in einen Torweg. Sie kletterten über eine Mauer, dann über eine weitere. Er murmelte ein gracias, obwohl es ihm eigentlich egal war. Sein Körper schrie ihm ein ekstatisches Zeugnis seiner eigenen Unsterblichkeit zu. Den Revolver hielt er noch immer in der Hand.
    Er hatte das Gefühl, schon immer in dieser verdunkelten Stadt gewesen zu sein; alles, was ihm je widerfahren war, verblasste und wurde bedeutungslos. Es war wie eine Befreiung. Dort, in den dunklen Straßen,
wo die Mündungsfeuer der Revolver die Funktion der Straßenlaternen übernommen hatten und die Rinnsteine voll Blut liefen, dort konnte er sich bewegen, ohne sich lediglich wie ein halber Mensch zu fühlen. Er existierte einfach nur. Er hatte sein Blut, seinen Körper, seine Instinkte und seine Reflexe. Er war sein Revolver, und durch ihn war er mit all den anderen verbunden, die wie er bewaffnet durch die Nacht hasteten. Er war mit allen Männer vereint, mit Leben und Tod.
    Von den Hügeln hinter der Stadt rollte eine große rote Kugel über den Boulevard auf ihn zu. Langsam ging die Sonne auf. Um ihn herum begannen die Farben zu leuchten, erst in einem schwachen Glimmen, dann stärker. Er begrüßte das Morgengrauen mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Es schien, als würde das Sonnenlicht mit dem nächtlichen Chaos aufräumen und den Häusern und bald auch den Menschen wieder ihren Platz zuweisen.
    Er sah an sich herab. Sein Hemd war voller Blut. Er riss es sich vom Körper und warf es auf die Straße. Er spürte das Gewicht des Revolvers in seiner Hand und zögerte einen Moment. Dann ließ er ihn fallen und ging weiter.
    Herman kam an einen großen Platz. Überall lagen umgeworfene Tische und Stühle. Männer in Uniformen trugen Leichen fort. Bald würde auch das Blut vom Pflaster gewaschen sein. Der Tag kehrte zurück.
    Er überquerte ruhig den Platz. Ein Soldat rief ihn an und ging auf ihn zu. Zwei andere folgten. Sie musterten ihn von oben bis unten. Herman stand mit nacktem Oberkörper da, umhüllt von einem scharfen Schweißgeruch und einem von Wind, Alkohol und Sonne geröteten Gesicht. Was war er? Ein Seemann, der in einem Augenblick der Erregtheit Zeit und Raum und das Ausgangsverbot vergessen hatte?
    Er stank.
    Sie hielten es für den Geruch von Bettwäsche

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