Wir Ertrunkenen
Aussperrungen? Das schien nicht eindeutig festzustehen, jedenfalls war es eine Art Revolution. Nach neun Uhr abends herrschte Ausgangsverbot und jeder, der nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße angetroffen wurde, konnte erschossen werden.
«Wieso ist hier Revolution?», fragte Fräulein Kristina mit Augen, die vor Neugierde glänzten.
Ihr Vater zuckte die Achseln.
«Vermutlich hungern sie», erwiderte er. «Hier sind die Armen sehr arm.»
«Aber das ist ja furchtbar», sagte Fräulein Kristina, «die armen Menschen.»
«Nimm’s nicht so ernst», warf Herman ein. «Es ist das Übliche. Hier unten ist immer Revolution. Es gibt einen Aufschrei, und dann schießen sie aufeinander. Dann soll alles anders werden, und wenn du das nächste Mal herkommst, ist alles beim Alten. Es ist ihr Temperament. Sie können ihr Temperament nicht im Zaum halten. Aber die Zustände verändern können sie auch nicht.»
Das Wort «Revolution» machte die Runde an Deck. Sie mussten es in den Mund nehmen und schmecken. Es war wie eine exotische Frucht, voller fremder, erregender Aromen. Die Revolution gehörte hierher, in den Süden. Nun konnten sie nach Hause zurückehren und erzählen, sie hätten es gesehen. Allerdings gab es so gut wie nichts zu sehen. Die Sardinenfischer schienen die Umwälzungen nicht zu betreffen – wenn es denn überhaupt eine Revolution war. Sie kamen jeden Tag mit schwer beladenen Booten heim. Doch dann weitete sich der Streik aus, und es ging das Gerücht, dass nun auch die Sardinenfabriken bestreikt wurden.
In den kommenden Tagen liefen die Fischer nicht aus, und um die Kristina wurde es ruhig. Die Nauta und die Rosenhjem liefen ein. Es entstand ein kleines schwimmendes Marstal mit einem lebhaften Verkehr zwischen den Schiffen. Besuche wurden gemacht, und man trank Kaffee. Fräulein Kristian setzte ihre Spaziergänge mit Ivar aus, um die Kapitäne zu unterhalten; alles Bekannte ihres Vaters, die auch zu Hause in Marstal bei ihnen ein und aus gingen. Mit ihnen besuchte sie die Stadt, die trotz der Revolution ruhig war. Sie ruderte das Boot, das sie an Land brachte. Ja, sie war eine richtige Kapitänstochter.
Sie kam mit einem Blumenstrauß zurück, der ihr von einem Gärtner in einem Park geschenkt worden war, und berichtete munter von einem großen Café am Marktplatz, auf dem ein Militärorchester spielte.
«Herrlich, mal wieder ein Blasorchester zu hören», sagte sie.
Herman zuckte die Achseln. So redete wohl eine Dame von Welt, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals davon gehört zu haben, dass ein Blasorchester in Marstal ein Konzert gegeben hatte. Im Kino war sie auch gewesen, und hier wurde der Film von einem Streichorchester begleitet – mit mindestens zwanzig Musikern, behauptete sie mit glänzenden Augen.
Auf den Schiffen aus Marstal hatten einige Matrosen ihre Musikinstrumente
dabei; es gab zwei Ziehharmonikas, drei Mundharmonikas und eine Violine. In den Freiwachen fanden sie sich zu einem ganzen Orchester zusammen. Ivar verfügte über eine hübsche Gesangsstimme, aber es war vor allem sein Radio, das ihn bei den anderen Besatzungen so beliebt machte. Auf der Kristina waren sie stolz auf ihn. Er gehörte zu ihnen, und es gab kein anderes Schiff, das jemanden wie Ivar vorzuweisen hatte. Er drehte an seinem Radio, und aus der ganzen Welt flogen die Stimmen heran, und natürlich Musik, der portugiesische Fado. Ivar kannte das Wort und erklärte ihnen diese melancholische Musik. Aus dem Radio kamen aber noch merkwürdigere Töne. Arabische Musik von einem Sender aus Casablanca. Hier musste sogar Ivar passen, auch er wusste nicht, wie man sie nannte.
Die Kapitäne traten aus der Kajüte, in der sie bei Genever und Rigabalsam gesessen hatten. Dem Radio konnten sie nicht widerstehen. Und Fräulein Kristina ging mit der Kaffeekanne herum und fragte, ob jemand Pfannkuchen wolle – und sofort war ein begeistertes Ja zu hören.
In Setubal befand sich Herman unter seinesgleichen. Es waren Seeleute, und sie kamen aus Marstal. In Nyborg hatte er in einem Torweg einen Mann niedergeschlagen und erklärt, er hätte es für die Stadt getan. Nun fühlte er sich isoliert. Es lag nicht an der Eifersucht. Möglicherweise hatte sie nicht einmal etwas damit zu tun. Eher lag es daran, dass er nicht wusste, wo er hingehörte. Er fühlte sich eigentlich nur zu Hause, wenn er den Ton angeben konnte und ihn eine Aura von Respekt und Furcht umgab.
Er spürte eine Verwandtschaft mit der
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