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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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und einer Frau. Er konnte es ihren Mienen ansehen und lachte ihnen zu. Sie lachten zurück. Der größere Soldat deutete auf seine Wange. Er hob die Hand und spürte blutigen Schorf, wo ihn eine Kugel gestreift hatte.
    « Mujer», sagte er. Frau.
    « Mujer», lachten sie.
    Einer von ihnen machte mit der Hand eine Katzenpfote mit ausgefahrenen Krallen nach.

    Er hatte in der Nacht auf sie geschossen, und sie hatten auf ihn geschossen, Schatten, die auf Schatten schossen. Nun waren sie bloß Männer im ersten Licht des Tages. Sie ließen ihn ziehen.
    Er kam zum Hafen, fand das Ruderboot, löste das Tau und begann mit langsamen Schlägen, zurück zur Kristina zu rudern.

    Am nächsten Tag verhielt Herman sich ruhig. Die Besatzung beobachtete ihn verstohlen. Sie hatten seine Abwesenheit bemerkt, aber nichts gesagt. Ab und zu verzog er sein Gesicht zu einem merkwürdigen Lächeln, das keinen Adressaten zu haben schien und noch nie jemand an ihm gesehen hatte. Sie schauten sich warnend an.
    Was kam nach der Ruhe?
    Ivar warf einen prüfenden Blick auf Hermans breiten Rücken. Nur Bager schien nichts mitzubekommen.
    Herman entgingen ihre Blicke nicht. Was dachten sie über ihn? Was, glaubten sie, hatte er während des Ausgangsverbots in Setubal getan? Dachten sie, er wäre bei einer Hure gewesen? Wieso fragten sie dann nicht? Hatten sie Angst vor der Antwort?
     
    Der Streik war vorbei. Die Kristina legte am Kai an. Ein paar Latten wurden zwischen Kai und Bordwand gelegt, und die Hafenarbeiter begannen, den Klippfisch zu löschen. Bager war in der Stadt, um Proviant zu besorgen, und hatte Fräulein Kristina mitgenommen. Sie kam fröhlich zurück und berichtete, dass der Schiffsausrüster sie eingeladen hätte. Sie hatte Fisch mit gebratenen Oliven gegessen.
    «Aber stellt euch vor, sämtliche Fenster des Restaurants waren zerbrochen. Ob letzte Nacht wohl Revolution gewesen ist?»
    Herman lächelte, sagte jedoch nichts. Die anderen musterten ihn skeptisch.
    Er schaute auf die Männer an Bord. Er schaute auf die Hafenarbeiter, die im Lastraum und am Kai arbeiteten. Er sah die Fischer mit ihren leeren Booten aus dem Hafen rudern. Er sah sie mit vollen Netzen zurückkommen. Er sah Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Er sah
die Einwohner von Setubal. Sein Blick schweifte über die Welt. Er spürte, dass die Zeit stillstand und er mitten in dieser Stille alle Rätsel der Welt gelöst hatte.
    Kam er in diesem Augenblick zu der fatalen Gewissheit, dass Fräulein Kristina ihm gehörte?
    Die Kristina wurde seeklar gemacht, und sie verließen Setubal. Die ersten beiden Tage hatten sie den Südwind im Rücken. Dann wurde es windstill. Sie hatten die Stagfock und das Toppsegel gesetzt, das Ruder hielt den Kurs allein. Die See war noch voller alter Dünung, und die Wellen schlugen hoch bis ans Schanzkleid. Die Mittagssonne brannte die Farben aus Meer und Himmel, bis alles in einem weißen Dunst aus Hitze verschmolz. Die Kristina hob und senkte sich im Takt der langsamen Atemzüge der See. Es hatte den Anschein, als wäre die Welt in einen tiefen Schlummer gesunken. Sie bewegten sich wie Schlafwandler und atmeten im Rhythmus der Dünung.
    Fräulein Kristina saß an Deck und stickte. Niemand sprach. Bager setzte sich mit dem «Andachtsbuch für Seeleute» zu seiner Tochter. Sie redeten nicht und machten den Eindruck, als müssten sie es auch nicht, um einander nahe zu sein. Er blätterte in seinem Buch eine Seite um, sah zerstreut übers Meer und wandte sich dann wieder dem Buch zu. Fräulein Kristina war in ihre Stickerei vertieft. Die Sonne hatte ihr das Gesicht gebräunt. Sie trug das Haar offen. Helmer ging mit Kaffee herum.
    Es waren die letzten warmen Tage, bevor sie sich der Biscaya näherten.
    Am nächsten Tag herrschte noch immer Flaute. Gegen sieben Uhr abends kam der erste Wind auf, und Ivar und Knud Erik enterten auf, um die Segel zu setzen. Im Laufe der Nacht frischte es auf, und als Fräulein Kristina sich am Vormittag an Deck zeigte, wurde sie von einer See empfangen, die ihr direkt ins Gesicht schwappte. Sie wischte das Salzwasser ab und lachte Ivar zu, der am Ruder stand. Dann warf sie einen kundigen Blick in die Segel. Die Gaffelsegel hatten sie in der Nacht gerefft, und von den Rahsegeln standen nur noch die Breitfock und das Untertoppsegel. Der Außenklüver blähte sich und müsste schon bald eingeholt werden.
    «Das geht ordentlich in die Plünnen», meinte sie lachend.

    Sie trug die Seestiefel ihres Vaters und

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