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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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eine Öljacke, die ihr viel zu groß war. Das Tuch, das sie sich ums Haar gebunden hatte, war durchnässt. Sie wrang es aus und steckte es in die Tasche ihrer Jacke. Ihr fülliges braunes Haar flatterte im Sturm.
    Wir segelten an zwei kleinen Fischerbooten vorbei, die in südlicher Richtung unterwegs waren. Fräulein Kristina stellte sich neben Ivar und sah ihnen nach. Die Boote stampften heftig in den Wellen, dann verschwanden sie in einem Wellental, tauchten aber sofort wieder auf und ritten auf dem Kamm der nächsten Welle. Sie folgte ihnen mit dem Blick, als suchte sie einen festen Haltepunkt. Etwas Angestrengtes lag in ihrer Miene, bis sie sich plötzlich die Hand vor den Mund hielt und zur Reling lief. Ivar schaute diskret zur Seite.
    Sie kam zu ihm zurück.
    «Ich glaube, ich gehe besser in die Kajüte», sagte sie.
    Er nickte.
    Gegen Mittag drehte der Wind. Wind und Strömung liefen nun gegeneinander, und die Kristina stampfte hart in den Wellten. Der Bug verschwand wieder und wieder in den Wassermassen.
    Herman übernahm das Ruder.
    «Wir müssen den Außenklüver bergen», sagte er zu Ivar.
    Ivar starrte ihn an. «Du willst, dass ich auf den Bugspriet klettere?»
    «Bist du schwer von Begriff?»
    «Siehst du, was ich sehe?»
    Ivan widersprach ihm nun ganz offen.
    «Ich sehe, dass der Außenklüver geborgen werden muss.»
    «Und ich sehe, dass der Bugspriet die Hälfte der Zeit unter Wasser ist.»
    «Du hast wohl Angst vor einer kalten Dusche?»
    Herman tat nichts, um seine Verachtung zu verbergen.
    «Wenn du das Schiff nicht in den Wind drehst, damit wir langsamer werden, gehe ich da nicht raus.»
    Sie sahen sich an.
    «Gibst du mir etwa Befehle?»
    «Du bist der Steuermann, ich der Matrose. Ich fordere dich bloß auf zu tun, was jeder tun würde, der ein bisschen Kenntnis von der Segelei hat. Oder ich lasse den Außenklüver Außenklüver sein.»

    Herman wandte den Blick ab. Er wusste, dass Ivar recht hatte. Es wäre unverantwortlich, einen Mann auf den Bugspriet zu schicken, wenn der Vordersteven so tief eintauchte. Er lockerte den Griff um das Ruder und ließ das Schiff in den Wind drehen. In diesem Augenblick trat Fräulein Kristina wieder aus der Kajüte. Sie hielt die Hand vor den Mund, als müsste sie erneut dem Meer opfern. Dann blieb ihr Blick an den beiden Männern hängen, die sich feindselig gegenüberstanden. Sie sah von einem zum anderen, die Hand hielt sie noch immer vor den Mund.
    Ivar lief übers Deck. Die Stampferei hatte aufgehört, der Außenklüver schlug im Wind. Der Bugspriet zeigte triefend nass in den verhangenen, schiefergrauen Himmel. Ivar enterte auf den Bugspriet und begann, den Klüver einzurollen.
    Herman beobachtete ihn, diese große, schlanke Gestalt, die so sicher dort draußen auf dem glatten Bugspriet stand und sich über der kochenden Tiefe darunter festhielt.
    Die Zeit zog sich zusammen und stand still.
    Es ist nicht nur die Stärke eines Mannes, die ihn stark macht. Es ist auch sein Wissen um die Schwächen der anderen. Herman hatte Ivar vom ersten Augenblick an verachtet, aber mit einer merkwürdig unklaren Verachtung, die sich an keinem konkreten Punkt festmachen ließ. Hatte Ivar einen schwachen Punkt? Konnte er in einer entscheidenden Situation dem Druck standhalten?
    Herman spürte das Ruder in seinen Händen, wie es schlug und ruckte, dieses ewige Armdrücken zwischen dem Rudergänger und dem Meer. Er musste ständig austarieren, um die Steuerfahrt zu halten. Dann zögerte er eine Sekunde. Mit dem Geräusch einer Explosion füllte der Wind die Segel. Der Bug hob sich auf einem rollenden Wellenkamm hoch gegen den Himmel, und dann fiel das Schiff, fiel und fiel durch die Luft, bis es auf der Wasseroberfläche aufschlug, wo eine Fontäne aus Schaum zu beiden Seiten aufspritzte. Die Kristina schnitt sich wie ein Messer durch die Wassermassen, und der gesamte Vordersteven tauchte ein, als wollte er Kurs auf den Grund nehmen.
    Es verging eine Ewigkeit – als hätte die Sonne ihre Bahn auf einen unsichtbaren Schwerpunkt irgendwo in eine ferne Galaxie verlegt –, und doch ging es so schnell, dass niemand reagieren konnte. Fräulein Kristina stand noch immer mit der Hand vor dem Mund da, die Augen weit
aufgerissen. Langsam hob sich das Schiff. Das Wasser schäumte achteraus über Deck, der Bugspriet wies triumphierend zum Himmel. Ivar hing noch dort. Er klammerte sich wie ein Affenjunges an den Bugspriet, weiß im Gesicht. In diesem kurzen Moment erkannte Herman, dass

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