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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Gesetzlosigkeit, die in der unberechenbaren Macht des Windes und der Wellen lag. Er spürte es in dem Moment, als er an Land ging. An Land bekam das Leben seine liliputartige Dimension zurück, und er taumelte umher wie ein tölpelhafter, heimatloser Riese, der sich nicht durch die Türen drücken konnte, die andere willkommen hießen.
    Es lag eine Milde über diesem Abend, eine Weichheit, die mit der warmen Luft des Südens kam, mit der Stille des Meeres, die die Sterne einlud,
sich im Wasser zu spiegeln, mit dem geheimnisvollen Schweigen der nahe gelegenen Stadt. Alles war zart, die Musik und die Stimmen, die Kapitäne, die mit ihren Gewohnheiten brachen und sich unter die Mannschaften mischten, der Duft der Pfannkuchen, der sich von der Kombüse her ausbreitete.
    Herman war unter seinesgleichen, aber er gehörte nicht zu ihnen.
    Wie ein plötzliches Brennen war es über ihn gekommen, dieses grauenerregende Gefühl, nicht mehr unversehrt, sondern ein Krüppel zu sein. Einen schrecklichen Augenblick lang betrachtete er sich selbst aus der Distanz und erblickte ein Monster. Er wollte sich verstecken und einer Welt entfliehen, die er nicht beherrschen konnte, als würde er einsehen, dass er sich auf einem Gleis befand, das nirgendwohin führte. Er verspürte weder das Bedürfnis zu trinken noch sich zu schlagen.
    Er musste einfach weg.
     
    Er ging in seine Kajüte und holte den Revolver. Dann kletterte er über die Reling ins Beiboot, das am Rumpf vertäut lag. Er stieß ab und begann mit langsamen Schlägen loszurudern.
    Wo wollte er hin? Er wusste es nicht. Ratlos ruhte er auf den Riemen aus. Einsam lag das Meer vor ihm. Kein Licht brannte, und die Stille der menschenleeren Stadt schien vom Nachthimmel gefallen zu sein; als hätte die große Leere des Universums die Stadt in dem Moment verschlungen, an dem die Ausgangssperre in Kraft trat.
    Dann wurde ihm klar, was er wollte. Er wollte in die verdunkelten Straßen. Das war sein Territorium, ein verbotener Bereich, in der es das Leben kosten konnte, gesehen zu werden.
    Kurz zuvor hatte noch ein Sturm in ihm getobt. Nun kehrten die Gezeiten in seine Adern zurück. Und mit der Ebbe kam eine gefährliche Ruhe in ihm auf.
     
    So lautlos wie möglich ruderte er langsam zum nächstliegenden Kai. Nur ein leises Platschen war zu hören, das sofort von der undurchdringlichen Dunkelheit verschluckt wurde. Die Musik und die Stimmen, die von der Kristina herüberschallten, waren nun so weit entfernt, dass sie aus einer anderen Welt zu kommen schienen, einer Welt, die er verlassen hatte und in die er nie wieder zurückkehren konnte.

    Er dachte nicht voraus. Er wusste nicht, was ihn in den leeren Straßen erwartete, es war ihm auch egal. Ein Magnet zog ihn, und er gehorchte willenlos. Dorthin gehörte er, in das Kraftzentrum des Magneten aus Stille, Tod und kaltem Metall. Er spürte das Gewicht des Revolvers in seiner Tasche und war bereit.
    Er vertäute das Ruderboot und kletterte auf den Kai. Es gab keinen Mond, und doch verschwand die Stadt in der Dunkelheit nicht ganz. Hier und da fiel Licht aus einem der Fenster oder durch die Ritzen der Fensterläden. Er hörte Stimmen, dann den Klang eines Klaviers, ein leises Geräusch, das gegen die Stille zu protestieren schien, um dann sofort von ihr aufgesogen zu werden.
    Herman stand zwischen zwei Häuserreihen und legte den Kopf in den Nacken. Er betrachtete die Milchstraße, eine mit glitzernden Steinchen gefüllte himmlische Schotterstraße, die sich quer durch die Einöde der Nacht zog. Er erinnerte sich daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er war noch ein Junge gewesen, allein in der Nacht. Er hatte am Strand gestanden und voller ungeduldiger Hoffnungen nach oben gestarrt. Aber nun, in dieser Nacht, hatte er all dem den Rücken gekehrt. Er war allein mit der Milchstraße und einem Revolver.
    Wünschte er sich, diese Nacht zu überleben? War es eine Probe, der er sich selbst unterzogen hatte, oder wollte er etwas ganz anderes? Er wusste es nicht. So gut verstand er die Sprache der Sterne nicht.
    Herman stand mitten auf der Straße und schaute gen Himmel. Die weißen Mauern der Häuser schimmerten bläulich, als würden sie den Sternenglanz reflektieren. Die Tore und Türen pulsierten schwarz. War es klug, mitten auf der Straße zu stehen?
    Einen Moment ließ der Rausch nach, den nicht irgendeine Form von Alkohol, sondern die Einsamkeit unter dem Nachthimmel hervorgerufen hatte. Er lief über den Bürgersteig und

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