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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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pullten.
    Herman blieb am Ruder. Immer deutlicher hatte er das Gefühl, dass nun er auf dem Schiff bestimmte.
    Sie ruderten in unregelmäßigen Kreisen, bald befanden sie sich auf dem Kamm einer Welle, dann wieder außer Sicht. Die Kristina trieb im Wind, ebenso wie die Rettungsboje. Wo genau war Ivar verschwunden? Das Meer besaß keine Kennzeichen. Sie trieben immer weiter fort, bis das Beiboot in dem aufgewühlten Meer nur noch eine weiß lackierte Nussschale in der wechselnden Landschaft der Wellen war, die sich aufbäumten und auf ihrer Jagd nach dem fernen Horizont müde liefen.
    Draußen schien irgendetwas zu passieren. Die kleinen Gestalten im Boot standen auf, es wurde gewunken. Dann lehnten sie sich hinaus. Es sah aus, als ob sie an etwas zerrten. Hatten sie ihn gefunden?
    Herman rief zu Helmer hinauf ins Rigg: «Siehst du etwas?»
    «Ich glaube, sie haben ihn!»
    Helmer winkte mit einem Arm, als bereitete er sich bereits darauf vor, Ivar mit einem «Willkommen unter den Lebenden» zu begrüßen.
    Es war unklar, was im nächsten Augenblick geschah. Die Gestalten lehnten sich noch weiter aus dem Boot. Das Beiboot schwankte bedrohlich unter dem plötzlichen Ungleichgewicht. Dann richteten sie sich wieder auf. Nur einer von ihnen blieb zusammengekauert sitzen.
    Herman rief wieder hinauf zu Helmer.
    «Was passiert da? Haben sie ihn?»
    Er empfand gar nichts, während er auf die Antwort wartete. Schaffte es Ivar, dann schaffte er es. Das Leben ging weiter, egal, was dort draußen auf dem Wasser passierte. Herman war ruhig und beinahe gleichgültig.
    «Ich glaube …»

    Helmer zögerte und kniff die Augen zusammen.
    «Ich glaube, sie haben ihn wieder verloren … ich kann ihn jedenfalls nicht sehen.»
    Sie lagen noch immer im Wind. Die Segel klatschten im Sturm.
    Das Beiboot begann im Kreis zu fahren. Eine Weile geschah nichts anderes, dann nahmen sie Kurs zurück aufs Schiff. Bager kam als Erster an Bord. Er hielt die Hand auf die Brust gepresst und war bleich. Dahinter folgte Fräulein Kristina. Sie begrub das Gesicht an der Schulter ihres Vaters und zitterte am ganzen Körper. Sie weinte laut und hemmungslos. Bager drückte sie an sich. Dann führte er sie, einen Arm um sie gelegt, zum Kajütniedergang, wobei er noch immer die andere Hand an die Brust drückte. Der Mund war nur noch ein Strich in seinem gequälten Gesicht.
    Herman rief Knud Erik zu sich.
    «Was ist geschehen?», wollte er wissen.
    «Wir hatten ihn gefunden. Er schwamm noch, aber er war schon halb ertrunken, und seine Augen sahen so merkwürdig aus.»
    «Merkwürdig?»
    «Ja, ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Als ob es nicht seine wären. Als ob er verrückt geworden wäre. Er schlug wild um sich, als wir versuchten, ihn an Bord zu bekommen. Wir konnten ihm nicht ordentlich unter die Arme greifen. Als wir dann zu ziehen begannen … ja, dann passierte es einfach.»
    «Was passierte?»
    «Nun ja, also seine Öljacke muss aufgegangen sein. Er rutschte aus ihr heraus. Plötzlich standen wir mit leeren Ärmeln da.»
    Knud Eriks Stimme war belegt, er konnte kaum noch weitersprechen.
    «Er ging sofort unter. Wir sahen ihn nicht wieder. Wir hatten ihn doch. Wir sahen ihm ins Gesicht. Ich war näher an ihm als ich jetzt an dir bin. Er war gerettet. Und dann …»
    Er unterbrach sich und starrte Herman mit einem eigenartigen Blick an.
    «Aber so hast du es ja auch gewollt … ist es nicht so?»
    Knud Erik schüttelte den Kopf und drehte sich um.
    Herman sah ihm lange nach. Dann wurde er von einem lauten Klatschen
abgelenkt. Es war der Außenklüver, der im Sturm schlug. Er schrie übers Deck.
    «Wir haben noch immer einen Außenklüver, der geborgen werden muss. Irgendein Freiwilliger?»
    Helmer hing im Rigg. Herman befahl ihm herunterzukommen und mit dem Mittagessen anzufangen. Es gab ein Schiff, das geführt werden musste; das Leben ging weiter.
    Er begann, über Knud Eriks Worte und diesen eigenartigen Blick zu grübeln, mit dem er ihn angesehen hatte. Ihm war, als hätte der Junge direkt durch ihn hindurchgesehen. Er erinnerte sich an Kristian Stærks Warnung vor Anton Hansen Hay, der den Schädel seines Stiefvaters gefunden hatte. Der Junge könnte etwas wissen. Diese verfluchten Burschen hatten ihn angeglotzt, dass ihm ganz unheimlich zumute geworden war und er schließlich die Stadt verließ. Aber es war ja nie etwas herausgekommen. Wahrscheinlich hatte man die Geschichte vollkommen vergessen.
     
    Herman aß zusammen mit den drei

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