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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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die Handfläche glitt über den Tisch. Plötzlich schlug er hart mit der Hand auf den Tisch. Es war offenbar ein Signal an sich selbst, nun die Unterredung zu beginnen. Im nächsten Augenblick sah er auf und heftete seinen Blick auf Herman.
    Das nervöse Blinzeln blieb.
    «Gegen Sie wurde eine ernsthafte Anschuldigung erhoben», sagte er und stockte, als erwartete er eine Reaktion von Herman.
    Herman schaute ihn abwartend an.
    Es wäre komisch, wenn er jetzt anfangen würde, aus dem «Andachtsbuch für Seeleute» zu zitieren, dachte er.
    Bager wandte den Blick ab und richtete dann mit deutlicher Selbstüberwindung seine Augen wieder auf Herman.
    «Jemand …»
    Er zögerte und suchte nach dem richtigen Wort.
    «Jemand … jemand, an dessen Worten ich keinen Grund zu zweifeln habe, behauptet, dass Sie Ivar absichtlich in Lebensgefahr gebracht haben, als er auf den Bugspriet stieg, um den Außenklüver zu bergen.»

    Er stockte erschöpft und wartete auf eine Antwort. Herman reagierte nicht, sondern blieb ruhig in seiner bisherigen Position stehen. Bager trocknete sich die Stirn mit einem Taschentuch. Das dünne, schweißdurchtränkte Haar geriet durcheinander und stand senkrecht in der Luft. Sein ratloses Gesicht bekam eine absurde Ähnlichkeit mit einem großen Fragezeichen.
    Herman sagte noch immer nichts, und wieder musste Bager das Schweigen brechen.
    «Sie standen am Ruder, und in dem Augenblick, als Ivar sich auf dem Bugspriet befand, änderten sie den Kurs, so dass das Schiff abfiel und der Vordersteven eintauchte.»
    Herman trat einen Schritt vor. Bager zuckte zusammen.
    «Wer hat das behauptet?»
    «Das geht Sie nichts an. Im Übrigen sind es nicht Sie, der die Fragen stellt. Ich bin es, der hier ein Verhör führt. Vergessen Sie nicht Ihren Platz!»
    Bager trocknete sich erneut die Stirn mit dem Taschentuch. Einen Moment hatte es den Anschein, als ob er irgendetwas hörte, das an einem ganz anderen Ort vor sich ging. Herman kam auf den Gedanken, dass nicht die Situation den Kapitän einschüchterte, sondern etwas ganz anderes. Dann ergriff Bager wieder das Wort.
    «Sie haben nicht nur unverantwortlich und wider jeden guten Seemannsbrauch gehandelt. Alles deutet darauf hin, dass Sie den Kurs absichtlich änderten.»
    «Was wollen Sie denn damit andeuten?»
    Herman konnte sich nicht länger beherrschen. Er bemerkte, dass er sich nun mit beiden Händen auf den Tisch stützte und sich drohend dem Kapitän entgegenbeugte.
    Bager presste seine Hand auf die Brust. Er atmete stoßweise und hatte es aufgegeben, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Haare standen noch immer senkrecht. Aber seine Stimme klang ruhig.
    «Ich deute nichts an, nein, ich sage es geradeheraus: Sie haben Ivar das Leben genommen.»
    Er unterbrach sich, um Luft zu schöpfen. Die Atemzüge kamen stoßweise. Herman stand wie erstarrt da, sein gesamtes Gewicht ruhte auf der Tischplatte.

    Bager hatte sich wieder erholt.
    «In Kopenhagen wird ein Seeverhör stattfinden. Und ich verspreche Ihnen, dort wird die Wahrheit ans Licht kommen.»
    «Es war Fräulein Kristina, stimmt’s? Sie hat Ihnen diese Lügen erzählt! Dieses verdammte Frauenzimmer. Er hat Panik bekommen. Darum ist er doch ertrunken. Er war ein Schwächling. Diese Sorte passt nicht auf See. Das ist alles. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.»
    Hermans Gesicht war jetzt dem des Kapitäns bedrohlich nahe. Er musste gegen den Impuls ankämpfen, ihn zu packen und den mageren Altmännerkörper gegen das Schott zu hämmern.
    Bagers Blick war auf ihn gerichtet, wirkte jedoch abwesend. Der Schweiß lief ihm über die blasse Stirn. Wieder hatte er diesen Gesichtsausdruck, als würde er auf etwas sehr weit Entferntes lauschen und überhaupt nicht mehr von Hermans Anwesenheit Notiz nehmen.
    «Hören Sie überhaupt, was ich sage!», brüllte Herman. «Es ist dieses Frauenzimmer, sie war doch scharf auf ihn!»
    Ihm war egal, was er sagte. Er hatte den Kopf verloren, doch noch immer seine Hände unter Kontrolle, obwohl es ihn große Anstrengung kostete. Sein ganzer Körper bebte. Verdammt noch mal, sah dieser Trottel denn nicht, dass er mit dem Feuer spielte? Wie viel durfte ein Mann sich gefallen lassen?
    «Beschuldigen Sie mich, ein Mörder zu sein?», brüllte er und spürte die Erleichterung, diese Worte herauszuschreien. Ein Gefühl von Selbstgerechtigkeit stieg in ihm auf, er gewann die Beherrschung über sich zurück.
    Der Gesichtsausdruck des Kapitäns blieb unverändert. Sein Blick

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