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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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richtete sich noch immer auf einen weit entfernten Punkt, und der lauschende Ausdruck hatte sich noch verstärkt. Plötzlich holte er tief Luft. Ihm entwich ein Hicksen, möglicherweise sogar der Auftakt zu einem Rülpser. Dann erstarrten seine Gesichtsmuskeln. Er riss die Augen weit auf, und der Unterkiefer fiel kraftlos herab. Einen Moment später kippte Bager vornüber. Sein Kopf schlug zwischen Hermans Händen auf dem Tisch auf.
    Herman machte einen Satz rückwärts. Er starrte auf das Haar des Kapitäns, das sich in dünnen Lagen über den Scheitel zog. Die Kopfhaut war grau wie ausgedörrte Erde. Er griff nach der Hand und fühlte
den Puls. Es war nichts zu spüren. Herman kletterte die Leiter hinauf an Deck.
    Vilhjelm stand am Ruder, Knud Erik daneben. Fräulein Kristina konnte er nirgendwo sehen. Wahrscheinlich saß sie bei Helmer in der Kombüse.
    Er ging auf die beiden Jungen zu.
    «Habt ihr was gegen Leichen?»
    Sie sahen ihn verständnislos an. Er zeigte auf Knud Erik.
    «Du kommst mit.»
    Zusammen mit dem Jungen ging er zurück in Bagers Kajüte. Knud Erik erstarrte, als er die Gestalt erblickte, die über dem Tisch lag.
    «Was ist passiert?»
    «Was glaubst denn du?»
    «Ist er tot?»
    «Ich habe seinen Puls gefühlt. Da ist nichts. Also gehe ich davon aus.»
    Knud Eriks Schulter begann zu beben.
    «Wir müssen ihn in die Koje legen.»
    Herman nahm Bager unter die Arme und zog ihn seitwärts vom Sofa. Knud Erik griff mit einem Arm unter die Beine. Vorsichtig legten sie den mageren Körper in die Koje. Die Augen waren noch immer aufgerissen. Auch der Mund stand offen. Herman schloss die Augen des Toten und drückte den Unterkiefer hoch.
    «Es war ein Unglück.»
    Er spürte Knud Eriks Blick und hielt ihm stand. Knud Erik schaute weg.
    «Ein Unglück kommt selten allein», fügte Herman besänftigend hinzu.
    Er gab jetzt nur Gemeinplätze von sich. Vollkommen sinnloses Gerede, platte Volksweisheiten. Dennoch lag etwas Beruhigendes in den Worten, fast schien es, als wollte er nicht nur Knud Erik trösten, sondern auch sich selbst. Bagers Tod hatte ihn erschreckt, so als hätte ihm jemand unerwartet «böh!» ins Gesicht geschrien. Den Mann an sich würde er nicht vermissen. Er hatte sofort begriffen, dass Bagers Tod für ihn nur von Vorteil sein konnte. Er würde einer Menge unangenehmer Beschuldigungen entgehen.

    «Ich muss mit Fräulein Kristina sprechen», sagte er und stieg die Leiter hinauf.
    Knud Erik folgte ihm. Herman öffnete die Tür zur Kombüse. Zusammengekauert saß sie auf der kleinen Bank. Helmer stand mit dem Rücken zum Herd. Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war blass und verweint, die Augen rot gerändert. Wegen des Salzwassers klebte ihr Haar in unordentlichen Strähnen flach am Kopf.
    «Fräulein Kristina», begann Herman, «ich muss mit Ihnen reden. Es geht um Ihren Vater.»
    «Meinen Vater?» Ihre Stimme klang verwundert.
    «Lassen Sie uns hinausgehen.»
    Er ging zur Seite, so dass sie durch die Kombüsentür treten konnte. Sie gehorchte ohne weitere Fragen. Ihre Bewegungen hatten etwas Schlafwandlerisches. Er führte sie zur Reling an der Lee-Seite. Sie standen sich gegenüber und hielten sich fest, während das Schiff in der schweren See auf- und niederging. Er wusste nicht, was nun passieren würde, aber er spürte, wie angespannt sie war. Würde sie zusammenbrechen? Oder rasend vor Zorn neue Anklagen gegen ihn ausstoßen? Ihn vielleicht sogar beschuldigen, ihren Vater umgebracht zu haben? Die Unsicherheit, die er immer in ihrer Nähe empfand, war wieder da. Nur schien sie jetzt tausendmal stärker zu sein. War er der Situation überhaupt gewachsen?
    Mit einer Kraftanstrengung bemühte er sich um einen nüchternen Tonfall.
    «Fräulein Kristina», hörte er sich sagen, «es tut mir furchtbar leid, dass ich es bin, der Ihnen diese traurige Nachricht überbringen muss, aber Ihr Vater ist soeben verstorben. Er bekam einen Herzanfall.»
    Er vermied ihren Blick, während er sprach, und sah auf den Boden. Man hätte dies als Zeichen seiner Anteilnahme und den Respekt vor ihrer Trauer werten können. Aber er wusste selbst, dass sein gesenkter Blick nur an seiner Unsicherheit lag. Er spürte, dass er das Spiel bereits verloren hatte und irgendetwas Schreckliches direkt vor seinem Gesicht explodieren würde, eine Kettenreaktion von Ereignissen, die ihn mitreißen und zu seinem Untergang führen würde.
    Herman hatte die Worte ausgesprochen und wartete nun auf ihre Reaktion, aber es geschah

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