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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Jungen. Die Stimmung war gedrückt, sie nahmen ihre Mahlzeit schweigend ein. Er musste daran denken, sie wieder auf die alte Ration zu setzen. Nun gab es ja keinen Ivar mehr, der Partei für sie ergreifen konnte.
    «Will jemand etwas sagen?», fragte er.
    Helmer kauerte sich zusammen und konzentrierte sich auf das Essen. Herman sah hinüber zu Knud Erik und Vilhjelm. Sie schüttelten beide den Kopf.
    «Wir haben heute einen Kameraden verloren», erklärte Herman. «Das ist schon früher passiert, und es wird wieder passieren. So etwas kommt vor auf See. Es gibt tüchtige Seemänner, und es gibt Seemänner, die nicht so tüchtig sind …»
    Er sprach den letzten Satz nicht aus.
    «Ivar war ein tüchtiger Seemann», sagte Knud Erik.
    Herman beherrschte sich. Er hätte dem Burschen gern eins übergezogen.
    «Es war das Meer», sagte er schlichtend. «Wenn das Meer sich von dieser Seite zeigt, können wir überhaupt nichts machen.»
    Er hörte selbst, wie hohl seine Worte klangen.

    «Aber ihr habt Ivar doch gehabt. Was ist passiert? Hat er Panik bekommen?»
    Knud Erik schüttelte den Kopf, er wollte nicht antworten.
    Herman wusste, dass er den wunden Punkt gefunden hatte. Sie hatten Ivar gefunden. Er lebte noch. Er hätte gerettet werden können. Er selbst hatte es verhindert. Ein tüchtiger Seemann, ja sicher. Aber benahm sich ein tüchtiger Seemann so, wenn sein Leben auf dem Spiel stand? Es könnte sein, dass Knud Erik ihn verdächtigte, für das Unglück verantwortlich zu sein. Aber der Junge hatte den Feigling in Ivar gesehen, und das ließ ihn bei seiner Anklage unsicher werden.
    Er wiederholte seine Frage: «Hat er Panik bekommen?»
    Die Frage hing so lange in der Luft, bis sie sich selbst beantwortete.
    Helmer stand auf und ging mit Kaffee in Bagers Kajüte.
    Knud Erik blickte auf. Ein gefährlicher Trotz lag in seinen Augen.
    «Ich erzähle alles dem Kapitän», erklärte er.
    «Erzählst ihm was? Du hast doch im Logis gelegen und geschlafen.»
    Hermans Stimme war ruhig.
    «Vilhjelm weiß es auch. Wir erzählen es Bager.»
    «Diese alte Geschichte!» Herman lachte. «Fünfzehn Jahre hat Marstal darüber geredet, dass ich Jepsen erschlagen hätte.»
    Er breitete die Arme aus und lachte.
    «Und schaut her! Ich sitze immer noch hier!»
    Helmer kam mit den Tellern aus der Kajüte des Kapitäns zurück. Weder Bager noch Fräulein Kristina hatten das Essen angerührt.
    «Der Kapitän will mit dir reden», sagte er.
    Herman erhob sich von der Bank. Auf Deck holte er tief Luft. Er musste sich zusammennehmen und seine Kräfte sammeln. Er hatte keine Ahnung, wie er sich rechtfertigen würde. Er verließ sich auf seinen Überlebensinstinkt. Nun sollte er seine Probe bestehen. Er sah, dass Fräulein Kristina zusammen mit Vilhjelm am Ruder stand. Er würde mit Bager allein sein. Das war sicherlich das Beste.
    Herman öffnete die Kajütentür und trat über die hohe Schwelle. Er war schon früher hier gewesen, doch nun schien es, als würde er Bagers Kajüte zum ersten Mal betreten. Sein Blick glitt über die Familienfotografien, deren Rahmen ans Schott geschraubt waren, statt an einer Schnur zu hängen. Über dem lederbezogenen Sofa hing ein festgebolztes
Regal voller Bücher. Schließlich fiel sein Blick auf den Kapitän. Bager schien in kurzer Zeit eine dramatische Veränderung durchgemacht zu haben. Noch immer hielt er eine Hand an die Brust gepresst, während sich die andere an die Tischplatte klammerte, als würde er gleich vom Sofa rutschen und nur der Kontakt mit dem Tisch ihn an seinem Platz halten. Er wirkte noch blasser, und seine Augen waren tief in den Kopf gesunken. Das dünne Haar war feucht, kleine Schweißperlen hingen am Haaransatz. Er blinzelte nervös.
    Herman blieb an der Tür stehen. Er hielt sich aufrecht und ließ seine Stimme so formell wie möglich klingen. Wenn es um Willensstärke ging, war er stärker als Bager. Daran hatte er nie gezweifelt, aber in diesem Moment war es deutlicher denn je. Doch der Kapitän war ranghöher. Herman durfte Achtung einflößen und einschüchtern, aber er durfte nicht den Eindruck erwecken, als wollte er die Hierarchie verletzen, der er unterworfen war, egal, wie sehr er deren Repräsentanten auch geringschätzte. Er war kein Meuterer.
    «Sie wollten mich sprechen», begann er.
    Bager starrte auf den Tisch, als hätte er vergessen, was er sagen wollte, und würde nun nach der Antwort auf dem lackierten Holz suchen. Dann löste sich sein Griff um die Tischkante, und

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