Wir Ertrunkenen
die Bücher. Es gibt niemals einen letzten Schlusspunkt.
Für Karoline war es nicht so. Sie bekam keine offizielle Mitteilung. Laurids war und blieb fort, aber wo und wie er verschwand, konnte ihr niemand sagen. Die Hoffnung kann wie eine Pflanze sein, die sprießt und wächst und den Menschen am Leben erhält, aber auch wie eine Wunde, die nicht heilen will. Karoline fehlte ein Schlusspunkt.
Man sagt über Tote, die nicht in geweihter Erde begraben sind, dass sie zu Wiedergängern werden, und Laurids begann schon bald umzugehen – allerdings nicht auf Erden. Er wurde zu einem Gespenst in Karolines Herzen und ließ sie nicht zur Ruhe kommen; denn er kannte keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und schließlich erging es Karoline ebenso. Tagsüber, wenn sie sich eigentlich mit praktischen Dingen beschäftigen musste, hatte sie Sehnsucht. Und nachts machte sie sich ganz praktische Sorgen, obwohl sie eigentlich Ruhe suchen oder sich über ihren Verlust ausweinen sollte – man sah es ihr an. Sie wurde schmächtig und grau, als bestünde sie aus dem gleichen Stoff wie das Gespenst in ihrem Herzen.
Nur ihre Hände verloren nie ihre Stärke. Mit ihnen konnte sie Wasser aus dem Brunnen schöpfen und jeden Morgen in der Küche das Feuer schüren, waschen und Kleider stopfen, weben, Brot backen und vier Kinder aufziehen, denen sie Ohrfeigen verpasste, die laut genug schallten, um die Erinnerung an den verschwundenen Laurids wachzuhalten.
DER TAMPEN
E s war unmittelbar nach dem Sommer, die Hitze steckte uns noch in den Knochen, wir sehnten uns ans Wasser und liefen nach der Schule hinunter zum Hafen, um mit einem Kopfsprung hineinzuhechten; manchmal gingen wir auch auf die Halbinsel. Nach dem Schwimmen ließen wir uns im warmen Sand trocknen, wobei wir uns über Lehrer Isager unterhielten. Die Neuen meinten, er sei gar nicht so schlimm. Ein Umdrehen des Ohrs oder ein Schlag auf den Kopf, das fiele doch kaum ins Gewicht. Das passierte doch auch zu Hause.
Aber die Älteren sagten: «Wartet’s nur ab. Zurzeit hat er gute Laune.»
«Er hat sehr anständig von meinem Vater gesprochen», sagte Albert.
«Na und, und was hat dein Vater über ihn gesagt?», wollte Niels Peter wissen.
«Er hat gesagt, Isager wäre ein wahrer Teufel mit ’nem Tampen.» Die Mutter hingegen hatte erklärt, dass man den Schullehrer nicht als Teufel bezeichnen dürfe, und Vater hatte widersprochen: «Ja, du kannst so etwas leicht sagen. Ihr Mädchen habt Isager ja auch nie gehabt.»
Der Gedanke an seinen Vater ließ Tränen in Alberts Augen treten. Er blinzelte und sah auf den Boden. Er hatte das Gefühl, als wäre seine Nase verstopft; mit einer brüsken Handbewegung wischte er sie ab. Wir sahen seine Tränen, aber niemand von uns zog ihn auf. Es gab viele Jungen in unserer Stadt, die ihren Vater ans Meer verloren hatten. Unsere Väter waren häufig weg, aber plötzlich waren sie für immer fort. Das war der ganze Unterschied, ob man einen toten oder einen lebendigen Vater hatte. Kein sonderlich großer Unterschied, aber groß genug, um zu weinen, wenn niemand es sah.
Einer von uns schlug Albert auf die Schulter und sprang auf.
«Wer ist Erster?»
Und dann rannten wir um die Wette und warfen uns ins Wasser.
Jeden Sommer verbrachten wir am Strand mit seinem Saum aus getrocknetem Tang, der unter unseren nackten Füßen knirschte und stach, seinem Teppich aus zerbrochenen Miesmuschelschalen, seinem grünlich schimmernden Sandgrund und seinen wogenden Wäldern aus Blasentang und Seegras unter der Wasseroberfläche.
Mit dreizehn gingen wir zur See. Einige von uns kehrten niemals zurück. Doch jeden Sommer gab es neue Jungen am Strand.
An einem Tag im August lagen wir im warmen Sand auf dem Bauch und schmeckten unsere salzige Haut, die noch immer sommerlich braun war. Wir sprachen über Jens Holgersen Ulfstand, der unter König Hans in einer Seeschlacht die Lübecker besiegt hatte, über Søren Norby, Peder Skram und Herluf Trolle, die alle auf dem Meer gekämpft hatten, in dem wir gerade geschwommen waren. Über Peder Jensen Bredal, der bei Als mit einer Musketenkugel in der Brust fiel, über Christian IV., der an Bord der Spes die Hamburger aus Glückstadt vertrieb, einer Stadt, die er selbst hatte bauen lassen und in der unsere Väter später gefangen gehalten worden waren.
Aber darüber sprachen wir nicht.
Am liebsten redeten wir allerdings über Tordenskjold, der eine ganze Nacht vor der Küste von Ærø und Als die Vita Örn
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