Wir Ertrunkenen
war er bereits fort. Er war nicht an Land gegangen, wie von Karoline vorgeschlagen, sondern hatte sich auf ebender Elbe nach Hamburg begeben, auf die er während seiner Gefangenschaft in Glückstadt jeden Tag gestarrt hatte. In Hamburg fand er eine Heuer als dritter Steuermann auf einem holländischen Schiff, das mit Emigranten nach Australien wollte. Außer Laurids bestand die Besatzung
aus drei Holländern und vierundzwanzig Indonesiern aus Java. Es waren einhundertsechzig Passagiere an Bord, und Laurids hatte die Aufgabe, den Proviant auszuteilen und die Rechnungsbücher zu führen. Nach einer halbjährigen Reise kam das Schiff in Hobart Town im Van Diemens Land an. Laurids musterte ab, und seither gab es niemanden, der von Laurids etwas gehört oder gesehen hatte.
In den ersten beiden Jahren von Laurids’ Abwesenheit gab es für Karoline keinen Anlass zur Beunruhigung. Er war schon früher zwei oder drei Jahre fort gewesen, und nicht immer finden Briefe ihren Weg von einem Ende der Erde zum anderen. Die Frauen unter uns, die ja zurückbleiben müssen, leben immer in Ungewissheit. Selbst ein Brief ist kein Beweis, dass sein liebevoller Absender noch am Leben ist. Ein Brief kann monatelang unterwegs gewesen sein. Aber das Meer nimmt ohne Vorwarnung. Doch wir sind so daran gewöhnt, besorgt zu warten und weiterzuleben, dass wir unsere Ungewissheit niemals miteinander teilen. Daher gab es auch niemanden, der Karoline etwas anmerkte, bevor drei Jahre vergangen waren.
Dann stellte ihre Nachbarin in der Korsgade, Dorothea Hermansen, eines Tages die Frage: «Ist es nicht bald Zeit, dass Laurids nach Hause kommt?»
«Doch», antwortete Karoline, mehr sagte sie nicht. Sie wusste, dass eine lange Zeit vergangen war, bevor Dorothea sich entschlossen hatte, diese Frage zu stellen. Und dass sie es nicht getan hatte, ohne zunächst mit den anderen Frauen in der Korsgade zu reden. Die Frage kam der Feststellung gleich, dass Laurids dort draußen bleiben würde.
An diesem Abend weinte Karoline, nachdem die Kinder im Bett waren. Sie hatte schon früher das Gefühl gehabt, weinen zu müssen, aber immer versucht, die Tränen zurückzuhalten. Diesmal gab sie ihnen nach.
Am folgenden Tag versammelten sich die Nachbarinnen in ihrer Stube, um sie zu fragen, ob sie Hilfe brauche.
Nun war Laurids’ Fortgang offiziell.
Sie setzten sich, jede mit einer Tasse Kaffee in der Hand, um Karolines
Esstisch. Zunächst sprachen sie knapp und pragmatisch mit ihr, um sich einen Überblick über Karolines Situation zu verschaffen: Viel Familie gab es nicht. Fünf Brüder hatte sie bereits ans Meer verloren, und Laurids’ Vater war ebenfalls fort. Dann wurden ihre Stimmen sanft, und sie begannen, Laurids’ Eigenschaften als Ehemann und Versorger zu loben.
Karoline begann zu weinen. So gegenwärtig war er ihr in diesem Augenblick, in dem die Worte der anderen Frauen ihn wiederauferstehen ließen.
Die Älteste von ihnen, Hansigne Ahrentzen, nahm sie in den Arm und ließ Karolines Tränen auf ihr graues Beiderwandkleid tropfen. Die Frauen blieben, bis sie sich ausgeweint hatte.
Damit war der erste Besuch beendet, der Karoline in ihren neuen Stand als Witwe einführte.
Nun wurde die holländische Reederei um Auskunft gebeten, aber sie hatten kein Schiff verloren, und Laurids fand sich auf keiner Besatzungsliste.
Die Gnade, eine Grabstätte zu besuchen, mit den Kindern dort vor einem Stein, der seinen Namen trägt, über ihn zu sprechen, die Gedanken abzulenken, indem man Unkraut jätet oder sich vielleicht in ein flüsterndes Zwiegespräch mit dem Toten unter der Erde vertieft, wird einer Seemannswitwe nicht gewährt. Sie bekommt ein offizielles Blatt Papier, in dem ihr mitgeteilt wird, dass das Schiff, auf dem ihr Ehemann angeheuert hatte oder dessen Kapitän oder Besitzer er war, «mit Mann und Maus» untergegangen ist. So steht es dort mit einer Nüchternheit, die unbarmherzig und gefühllos kleine und große Lebewesen auf dem Schiff gleichstellt; an dem und dem Tag, an dem und dem Ort, häufig in großen Tiefen, aus der es keine Hoffnung auf Bergung gibt. Die Fische waren die einzigen Zeugen. Dieses Papier kann sie in der Kommodenschublade aufbewahren. Das ist die ganze Beerdigung, die Ertrunkene bekommen.
Vor der Kommode kann sie ihre Andacht halten. Das ist die Grabstätte, die sie zu besuchen hat. Aber zumindest besitzt sie dieses Papier und damit ein Stück Gewissheit; es ist ein Punkt, aber auch ein Beginn. Das Leben ist nicht wie
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