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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Schreck mit Konzentration.
    Isager bekam einen aufmerksamen Gesichtsausdruck. Wieder schweifte sein Blick suchend umher. Er übertrieb es, als handelte es sich um ein Komödienspiel. Zuerst ging er auf Albert zu und sah ihm direkt ins Gesicht. Albert war einer der Jüngsten, und immer waren es die Kleinen, die Schwierigkeiten machten. Albert blickte starr vor sich hin. Isager ließ ihn in Ruhe und ging weiter.
    Wir waren ein großer Haufen. Er nannte uns nie beim Namen, sondern rief uns mit einem «Du da!» oder einem Schlag auf. Sein Tampen kannte uns besser als er.
    Es wurde still in der Klasse. Die Weinenden hielten sich die Hand vor den Mund, entsetzt bei dem Gedanken an all das Unglück, das der
kleinste Laut über ihren Köpfen auslösen könnte. Dann war irgendwo ein keuchendes Schluchzen zu hören, die Hand vor dem Mund hatte nicht ausgereicht. Durch Isager ging ein Ruck. Er kniff die Augen hinter den Brillengläsern zusammen und ließ den Blick umherschweifen.
    «Mund halten!», brüllte er.
    «Lehrer Isager», sagte Albert, «es war nicht richtig von Ihnen, uns zu schlagen. Wir haben doch überhaupt nichts getan.»
    Isager erbleichte. Sogar seine rote Nase verlor ihre Farbe. Er knöpfte den Leibrock auf. Das war das Zeichen. Den Tampen hatte er die ganze Zeit über festgehalten, das Gesangbuch in der einen Hand, das Werkzeug der Strafe in der anderen. Gerade noch hatte er vom Glück, dem Rat Gottes und dem Licht der Gnade gesungen. Nun war die Zeit der Drohungen gekommen. Er entrollte den Tampen mit einer geübten Bewegung. Wäre es eine Peitsche gewesen, hätte sie geknallt.
    «Bei meiner höchsten Ehre, nun sollt ihr eure Strafe empfangen!»
    Er atmete bereits schwer. Mit einem Griff am Pullover wurde Albert aus der Bank auf den Boden gezerrt. Ein Griff am Hosenbund und Isager hielt ihn zwischen seinen Beinen fest. Den ganzen langen, leeren Sommer über, in dem lediglich Josef und Johan seine Opfer waren, hatte er seine Kräfte aufgespart. Er besaß die Fertigkeit, die drei Jahrzehnte Übung verleihen, und der Tampen traf mit größtmöglicher Effektivität.
    Albert schrie erschrocken auf. Noch nie hatte er das Tau zu spüren bekommen. Laurids hatte selten geschlagen, und von der Mutter gab es meist nur Ohrfeigen. Das kannte er. Nun aber wurde er auf die Knie gezwungen. Er wand sich, um sich aus Isagers Griff zu befreien.
    «Nun, aufsässig bist du auch noch», zischte Isager, und mit einem Griff in die Haare riss er ihn auf die Beine. Er sah ihm ins Gesicht.
    «Aufsässig», wiederholte er und schlug ihm mit dem Tampen über die Wange.
    Dann ging er auf den Nächsten los.
    Ganz hinten im Klassenzimmer kletterte eine Gruppe aufs Fensterbrett und bemühte sich, die Fensterhaken zu öffnen. Isager entdeckte es zu spät. Das Fenster stand bereits sperrangelweit offen; die Jungen sprangen in den Hof und liefen zum Tor hinaus. Isager stand da, den Tampen zum Schlag erhoben. Der Junge zwischen seinen Beinen riss sich los und rannte panisch durch die Klasse. Währenddessen bahnte
sich Isager den Weg zum anderen Ende des Klassenraums. Er schlug mit dem Tampen nach beiden Seiten.
    «Beeilt euch, beeilt euch! Er kommt!», riefen wir warnend.
    Noch einer schaffte es, aus dem Fenster zu springen. Dann hatte Isager sie erreicht. Er prügelte auf die Letzten ein, bevor er sie vom Fensterbrett zog. Der Tampen traf uns bald an den Beinen, bald am Rücken, an den Armen oder ins bloße Gesicht. Einer krümmte sich am Boden zusammen, wobei er die Arme über den Kopf hielt. Isager schlug ihn hart auf den Rücken und trat ihn dann in die Seite.
    Hans Jørgen bekam den Arm des Lehrers zu fassen. Er war ein großer, kräftiger Bursche, der nächstes Jahr konfirmiert werden sollte.
    «Willst du Hand an deinen Lehrer legen, du Lümmel!», brüllte Isager und kämpfte, um sich zu befreien.
    Niemand kam Hans Jørgen zu Hilfe. Wir wagten es nicht, obwohl wir genügend gewesen wären, um Isager zu überwältigen. Alle siebzig hätten wir auf ihn springen und ihn mit unserem Gewicht ersticken können. Doch so dachten wir nicht. Er war ja der Lehrer. Die meisten blieben verängstigt auf ihren Plätzen sitzen. Sie wussten, dass sie bald dran waren. Und dennoch rührten sie sich nicht.
    Albert ging nah an die Kämpfenden heran. Er taxierte Isager, der ihn nicht bemerkte. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich aus Hans Jør-gens Griff zu winden. Albert stand da und schaute ihn mit dem gleichen abschätzenden Blick an, mit dem er Isagers

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