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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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undenkbar.
    So musste Ejnar erzählen, und er erzählte so gut, dass alle glaubten, er hätte es eine ganze Weile geübt. Das Haus war voller Menschen, die gekommen waren, um Laurids zu sehen. Karoline stand in der Küche, um Wasser für den Kaffee aufzusetzen. Sie wandte uns ihren breiten Rücken zu und lärmte mit den Tassen, wie sie es immer tat, wenn sie wütend auf Laurids war. Doch selbst sie kam schließlich in die Stube, um Ejnar zuzuhören.

    «Ja, wir vergessen niemals, dass wir für Dänemarks Ehre gestritten haben», sagte Ejnar.
    Wir alle nickten und verspürten in diesem Augenblick ein großes patriotisches Gefühl.
    Ejnars nächster Satz verblüffte uns indes.
    «Tja, für Dänemarks Ehre», wiederholte er, «aber gefunden haben wir Schande. Mit freudiger Erwartung und unerschrockenem Mut wagten wir unser Leben und unser Blut, um die Ehre unseres Landes zu retten, doch dank eines jämmerlichen Führers verloren wir sie. Wir vergessen niemals, dass wir am Gründonnerstag inmitten von Kugeln, Rauch und Dampf standen und kämpften, fielen und starben; dass wir am Abend wie Sklaven von den Schiffen nach Eckernförde gebracht und in das Haus des Herrn eingesperrt wurden, wo wir ermattet und wie betäubt im Stroh übereinander lagen; dass das Linienschiff Christian VIII. in die Luft flog und so viele Unschuldige erstickten; dass wir Karfreitag müde und erschöpft wie die elendigsten Sklaven unter Hohn und Spott nach Rendsburg marschieren mussten und man uns dort wieder in ein Haus Gottes einquartierte und ins Stroh legte; dass wir am Osterfest trockenes Brot essen mussten; dass das Haus des Herrn auf diese Weise zu einem Sklavenhaus wurde, in dem wir Schande und Spott ausgesetzt waren; dass unsere ganze Gefangenschaft eine Kette von langweiligen, traurigen und elenden Tagen war. Das vergesse ich niemals, solange ich lebe.»
    «Ich habe Laurids gesehen», fuhr Ejnar fort, «und das wurde meine einzige Hoffnung und mein Trost in der Gefangenschaft. Ich habe Laurids gesehen, wie er mitten vom Deck des brennenden Schiffs zum Himmel fuhr, ganz bis auf die Höhe der Großrahe, und ich habe ihn wieder herunterkommen und auf seinen Füßen landen sehen, und da wusste ich, dass wir unsere Liebsten wiedersehen werden.»
    «Ich habe es dir schon einmal gesagt, Ejnar, und ich sage es dir noch mal, es waren die Stiefel.»
    Laurids streckte den Fuß vor, so dass wir alle den schweren Seestiefel aus Leder betrachten konnten.
    «Es waren die Stiefel, die mich gerettet haben. Das ist die ganze Geschichte.»
    «Hast nicht auch den Arsch vom heiligen Petrus gesehen?», fragte der
kleine Schreiner Laves Petersen, denn die Geschichte hatte sich bereits herumgesprochen. Lille Clausen hatte den Mund nicht halten können.
    «Sicher, ich habe Petrus’ Arsch gesehen», erwiderte Laurids.
    Doch seine Stimme klang müde und fern, als hätte er bereits alles vergessen. Wir verstanden sofort, dass wir nicht mehr zu hören bekommen würden. Die meisten von uns meinten im Übrigen, dass jeder Mann seine eigene Hölle hätte, genau wie seinen eigenen Himmel, und dass es sein gutes Recht wäre, ihn für sich zu behalten.
     
    Es war nicht zu übersehen, dass Laurids nicht mehr derselbe war. Wir begriffen, dass der Krieg für ihn ein schlimmes Erlebnis gewesen war und er Dinge gesehen hatte, die niemanden guttun, der sie sieht. Aber er hatte bereits zwei Schiffsuntergänge erlebt, ohne dass es den geringsten Eindruck auf ihn gemacht hatte. Lille Clausen sagte, die Seeschlacht wäre wie ein Untergang gewesen, nur schlimmer. Ejnar erzählte uns allerdings, dass Lille Clausen den größten Teil der Schlacht mit den Füßen im Wasser verbracht habe und daher mit einer Erkältung davongekommen sei, während anderen der Kopf abgeschossen wurde.
    Da niemand von uns je eine Schlacht erlebt hatte, wussten wir nicht, was wir von Laurids’ Benehmen halten sollten, und ließen ihn daher in Ruhe.
    Karoline war der Ansicht, dass ihr Ehemann sich an Land eine Lebensaufgabe suchen solle. Dann würden sie und die Kinder ihn häufiger sehen. Sie war besorgt über sein neues Wesen und wollte ihn gern in ihrer Nähe wissen.
    Lille Clausen und Ejnar wurden im Laufe des Krieges noch mehrere Male einberufen, kehrten aber immer lebend zurück. Wir wurden es allerdings mit der Zeit leid, Ehrenpforten zu errichten und «Hurra!» zu rufen, und behandelten die Eingezogenen schließlich wie jeden anderen heimkehrenden Seemann.
    Auch Laurids wurde einberufen, aber da

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