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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ziemlichen Unfug halte.
    Stattdessen erzählte er biblische Geschichten, am liebsten die Geschichte von Jakob und seinen zwölf Söhnen, bei der sein Blick jedes Mal weich wurde und er murmelte: «Ich habe doch auch zwölf Söhne, genau wie Jakob.»
    Weil wir gut zuhörten, verstanden wir, dass Jakob ein Betrüger war, der seinen eigenen Bruder, Esau mit den behaarten Armen, bestohlen und seinen Vater belogen hatte, den blinden Isaak. Er zeugte Kinder mit vier verschiedenen Frauen, Rahel, Lea, Bilha und Silpa, und wenn die eine ihm keine Kinder gebar, schlief er einfach mit einer anderen. Er prügelte sich mit einem Engel und hinkte nach dieser Schlägerei. Dann wurde er von Gott gesegnet. Es war eine merkwürdige Geschichte, aber das wagten wir Isager nicht zu sagen.

    Isager hatte zwei Söhne, Josef und Johan, die noch zur Schule gingen. Aber nur Josef hatte er nach einem der zwölf Söhne Jakobs benannt. Wir erklärten den beiden, dass der Held ihres Vaters ein Lügner sei, ein Dieb und ein Hurenbock. Johan heulte. Das tat er immer, denn Josef schlug ihn jeden Tag. Tränen, so dick wie Wachstropfen, traten aus seinen unnatürlich großen Augen. Josef ballte die Fäuste, gab ihm eine Kopfnuss und erwiderte, ihr Vater sei kein Hurenbock, sondern bloß dumm und versoffen.
    So redeten wir nie über unsere Väter. Danach ließen wir Isagers Söhne jedoch in Ruhe.
     
    Mitte September türmten sich die Wolken über der Insel. Der Wind kam aus Osten. Da wussten wir, dass es mit dem schönen Wetter vorbei war. Bald war der ganze Himmel von einer schiefergrauen Schicht überzogen, und Isagers Stahlbrille presste sich gegen die Nasenwurzel. Einige von uns glaubten, dass Isagers Stimmungswechsel vom Wetter abhingen, also war das Erste, was wir jeden Tag auf dem Weg zur Schule taten, einen Blick gen Himmel zu werfen. In den Wolkenformationen suchten wir nach Zeichen. Es war eine unsichere Meteorologie, und selbst deren eifrigste Anhänger mussten einräumen, dass Isager und die Wolken nicht immer übereinstimmten.
    An diesem Tag Mitte September taten sie es. Isager hatte den Schlafrock ausgezogen und trug einen schwarzen Leibrock mit Rockschößen, den wir seine «Kampfuniform» nannten. Seine Stiefelabsätze knallten auf das Kopfsteinpflaster, als er den Hofplatz zwischen seiner Amtswohnung und der Schule überquerte. In der rechten Hand hielt er den Tampen einsatzbereit. Er postierte sich am Eingang des Schulgebäudes und versetzte jedem Einzelnen von uns einen Schlag in den Nacken, dass wir über die Türschwelle segelten.
    Wir hatten uns in einer Reihe aufzustellen, um die Schläge zu empfangen. Wir waren siebzig Jungen in Isagers Klasse und mussten durch diese Tür, einer nach dem anderen. Unsere Kopfhaut konnten wir gegen Schläge abhärten. Ohnehin waren die Ältesten unter uns Raufereien gewohnt und ertrugen viele Prügel. Doch unsere ängstlichen Herzen konnten wir nicht abhärten. Ein Schlag, der vorhersehbar ist, schmerzt immer mehr als ein unerwarteter.

    Die Kleinsten in der Klasse bekamen ein Zucken um den Mund, noch bevor sie Lehrer Isager erreichten. Der Schlag in den Nacken war ihre Taufe.
    In der Klasse erwartete sie noch Schlimmeres.
     
    Wir begannen den Unterricht, indem wir Vergangen ist die dunkle Nacht anstimmten. Isager sang mit einer blökenden Stimme vor. Eigentlich war er auch Küster, aber er musste den Hilfslehrer Nothkier bezahlen, damit der sonntags in der Kirche sang. Die Gemeindemitglieder hatten geschworen, auf der Stelle die Kirche zu verlassen, sollte Isager den Mund aufmachen und singen. Das war zu viel für seine Eitelkeit gewesen. Aber in der Schule hatten wir keine Wahl, und doch lernten wir, seine Stimme zu schätzen und zu hoffen, dass der schleppende Psalm aus unendlich vielen Versen bestand. Denn solange Isager sang, prügelte er nicht.
    Während er sang, schritt er rastlos auf und ab. Er konnte den Psalm auswendig, dennoch hielt er das aufgeschlagene Gesangbuch dicht vor der Nase. Hinter dem Buch glitt sein Raubtierblick hin und her. Als er die letzten Zeilen beendete, «Gott gib uns Glück und guten Rat, sein Gnadenlicht er sende», weinten einige von uns. Der Psalm hatte ihr Weinen übertönt. Nun war es wieder zu hören.
    Es war der Schlag in den Nacken, der die Tränen hatte fließen lassen. Und es war der Schrecken, der sie weiterfließen ließ.
    Albert stand mit zusammengepresstem Mund da und starrte mit einem grübelnden Blick auf Isagers Brille. Er bekämpfte seinen

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