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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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die nächste Bombe.
    Der Lärm war ohrenbetäubend. Zwei Öltanks an der Nordseite der Themse standen in Brand. Aus dem Flammenmeer kam ein frustriertes Brüllen wie von einem Fenriswolf, der an seiner Kette heult, um auf die ganze Welt loszugehen. Der schwarze Rauch war eine Faust, die sich gegen die fernen Sterne reckte, die nacheinander erloschen, bis die Nacht mit den vergifteten Rauchwolken verschmolz. Unter dem Deckel der Dunkelheit war alles erleuchtet, als hätte jemand die Sonne abgeschossen, die nun ein letztes Mal inmitten der zerstörten Öltanks aufflackerte.
    Das gesamte Southend stand in Flammen. Die Fenster der Mietkasernen leuchteten im Schein des Brandes, während das Feuer auf den Dächern sich erhob wie eine seltsame, sich explosionsartig ausbreitende Vegetation, die dort angepflanzt war, um die Erde zu vernichten, in der sie wuchs. Die Docks zitterten in krampfhaften Zuckungen der Zerstörung, als wäre irgendwo in ihren Eingeweiden eine Kettenreaktion der Vernichtung ausgelöst worden, die sich nun mit einer nicht zu stoppenden Kraft fortsetzte.
    Von den Flugabwehrbatterien auf den Dächern, die noch nicht brannten, blitzte es auf. Auch von den Schiffen auf dem Fluss wurde gefeuert. In seiner Nähe hörte Knud Erik das alte Lewis-Maschinengewehr, das ein paar Monate zuvor an Bord der Dannevang montiert worden war. Vier Besatzungsmitglieder hatten in der englischen Flotte ein Waffentraining
absolviert. Er war einer von ihnen gewesen. Ihnen war rasch klar geworden, dass dieses Maschinengewehr, das aus dem Ersten Weltkrieg stammte, nichts nutzte, wenn es darum ging, das Schiff zu verteidigen. Aber es hatte eine andere, wichtigere Funktion. Es war besser als Whisky und Gebete, wenn es denn noch immer jemanden gab, der auf die Idee kam zu beten: Man wurde so herrlich ruhig, wenn man das Maschinengewehr in den Händen hielt, obwohl es für seine Dienste einen hohen Preis forderte. Das überhitzte Metall verbrannte die Handflächen, und durch den hackenden Lärm klingelte es in den Ohren, bis man mehr oder weniger nichts mehr hörte. Doch wenigstens für einen Augenblick war die Wartezeit vorbei.
    Du hast geantwortet. Du hast etwas getan.
    Merkwürdigerweise war der Platz des Maschinengewehrs der sicherste Ort, an dem man sich während eines Angriffs auf das Schiff aufhalten konnte, obwohl derjenige, der es bediente, sich inmitten des Kugel- und Bombenhagels für jedermann sichtbar an Deck befand, ja sogar dessen bevorzugtes Ziel war. Und doch war es der einzige Ort, an dem man nicht riskierte, durch die eigene Wehrlosigkeit wahnsinnig zu werden.
    Als der Luftalarm ertönte, hatten sie sofort die Leinen losgemacht und die Bojen auf der Themse angelaufen. Das war ein stehender Befehl. Es war den Schiffen verboten, während eines Luftangriffs am Pier zu liegen. Wurden sie getroffen, vergingen oft Wochen, bis man das Wrack entfernt hatte, und in der Zwischenzeit blockierte es andere Schiffe. Sie fuhren mit einem Gefühl der Resignation hinaus aufs offene Wasser; dort konnten sie nicht an Land springen, wenn das Schiff getroffen wurde.
    «Jetzt geht’s hinaus auf den Friedhof», hieß es untereinander.
    Aber nicht das Grab eines Verwandten wollten sie besuchen, sie nahmen Kurs auf ihr eigenes. Die Bojen im Fluss waren für die zum Sterben Verurteilten reserviert.
    Da war es gut, eine Lewis in den Händen zu halten.
    Mehrere Schiffe brannten. Eines der ihren holte langsam über und begann zu sinken. Die Mannschaft war in die Boote gegangen und ruderte ziellos auf dem Wasser umher. Die Kaianlagen brannten, und ein Kran war zur Hälfte ins Hafenbecken gestürzt.
    Hoch oben entfaltete sich ein Fallschirm nach dem anderen. Mit langsam wiegenden Bewegungen näherten sie sich dem Fluss. Als sie tief genug
flogen, erkannte Knud Erik, dass am Ende der Leinen keine Piloten hingen. Die Fallschirme trafen aufs Wasser, und die großen Seidenschirme falteten sich langsam zusammen, bevor sie auf dem Fluss zur Ruhe kamen. Sie sahen aus wie Blumen, die man über ein Grab gestreut hatte.
    Eine Stunde später wurde Entwarnung gegeben. Auf den Kais brannte es noch immer. Mit unverminderter Stärke schickten die Öltanks ihre schwarzen Rauchwolken in den Nachthimmel. Es hing ein durchdringender Geruch nach Öl, Ruß und dem Staub von Ziegelsteinen über dem Fluss. Man roch auch Schwefel, konnte jedoch nicht ausmachen, woher er kam.
    Seine Augen brannten vor Müdigkeit.
     
    Knud Erik hatte dasselbe in Liverpool, Birthenhead,

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