Wir Ertrunkenen
ertönten die Sirenen. Es wurde Entwarnung gegeben, und die Tür zu der verdunkelten Straße öffnete sich. Es musste mitten in der Nacht sein.
Knud Erik verlor sie, als die Menge zum Ausgang drängte. Vielleicht ließ er sie absichtlich gehen, und sie tat vermutlich das Gleiche. Draußen brannte es. In dem flackernden Licht suchte er die Gesichter ab. War sie es, sie oder sie? Es könnte das junge Mädchen mit dem Kopftuch über den Haaren sein, die ihren Blick auf den Boden gesenkt hielt. Aber es könnte auch die ältere Frau mit den harten Gesichtszügen und dem verschmierten Lippenstift sein, den sie im Schein der brennenden Häuser nachzuziehen versuchte. Er wollte es nicht wissen. Sowohl er als auch die unbekannte Frau hatten gefunden, wonach sie suchten. Ein Gesicht oder ein Name wäre nur ein überflüssiges Nachspiel.
Knud Erik blieb drei Tage in London.
Er trieb es in einem Hinterhof, auf der Toilette eines Pubs, in Hotelbetten, er trieb es zur Begleitung von Bombenangriffen, und er trieb es ohne jede andere Begleitung als den schweren, keuchenden Atemzügen von ihm und seinen zufälligen Partnerinnen, bis er den Punkt erreicht hatte, an dem sich Stille und Dunkelheit trafen und ihn mit sich rissen.
Er trank mit Männern und liebte Frauen, denen es ebenso ging wie ihm. Wenn die Bomben fielen, wussten sie nicht, ob sie sich schon bald der rasch wachsenden Zahl von Toten anschließen würden, ob ihre Arbeitsplätze in Mauerbrocken verwandelt waren oder ihre Familien unter zusammenstürzenden Häusern begraben lagen. So sehr lebten sie mit dem Entsetzen, dass sie schon von den Verlusten, die sie noch nicht erlitten hatten, aufgefressen wurden. Jede einzelne Sekunde war eine Wiedergeburt, jeder Kuss ein Aufschub, jeder stöhnende Atemzug eine Liebeserklärung an das Leben, das man in der Gestalt eines Unbekannten umarmte. Und der Rausch, dieser permanente Rausch, den er suchte und fand, war ein Geschenk, weil er wie eine Kugel im Gehirn all das nahm, was ihn ausmachte – sein Gesicht, seinen Namen, seine Geschichte –, um endlich den Hunger in seinem Körper zu stillen. Drei Tage schwelgte er in seinem rücksichtslosen Lebensappetit, in nichts anderem.
Am letzten Abend trugen sie den übrig gebliebenen Inhalt vieler Seemannskoffer zusammen, Unterwäsche, Nylonstrümpfe, Kaffee, Zigaretten und Dollars, vor allem Dollars. Sie gaben sich als yanks aus und kauften sich für eine Nacht eine Suite, die die ganze Etage des Hotels einnahm. Die Mädchen brachten sie mit, den Kellnern gaben sie großzügige Trinkgelder, und der Portier behielt die Rechnung im Auge, so dass sie wussten, wann das Geld verbraucht war. Dann aßen und tranken, tanzten und hurten sie sich durch eine weitere Bombennacht. Wally hatte das Grammofon zu bedienen. Sie tanzten zu Lena Horne, während sie Bier, Whisky, Gin und Cognac in sich hineingossen.
Um elf Uhr gab es Fliegeralarm.
Die Kellner polterten gegen die Tür und forderten sie auf, in den Keller zu gehen.
«Ich schlage vor, hierzubleiben», sagte Knud Erik.
Er hatte den Kommandoton abgelegt. Er war kein Kapitän, sondern ein buddy unter buddies.
« Aye, aye, captain.»
Wally salutierte und schenkte sich noch einen Cognac ein.
Sie löschten das Licht und zogen die Gardinen zu. Über den Nachthimmel strichen die Suchscheinwerfer. Die ersten Bomben fielen, zunächst weit entfernt, dann näher. Es klang wie bei einem Schlagzeuger,
der vor dem großen Solo seine Trommeln prüft. Das Gebäude zitterte. Sie krochen unter die Betten. Sie wussten, dass die Matratzen sie nicht schützen würden. Die Nähe zweier Körper schon. Die Instinkte übernahmen die Herrschaft, die Liebe machte sie unverletzlich.
Immer dichter fielen die Bomben. Draußen vor den Fenstern blitzte ein blauviolettes Licht auf und verschwand wieder. Ein Flammenschein huschte über die Decke. Jedes Mal, wenn die Vernunft versuchte, Zugang zu ihren vernebelten Gehirnen zu erlangen – jetzt durften sie nicht mehr länger warten, jetzt mussten sie in den Keller gehen –, zogen sie ihre Partner enger an sich und stießen noch tiefer, wobei Angst und Lust sich gegenseitig anstachelten und zur Ekstase steigerten. Dann fielen sie erschöpft zusammen, die Glieder erschlafften. Sie breiteten die Arme in einem Augenblick seligen Dösens aus, als hätten sie diese Nacht bereits überstanden.
Aber noch gab es die Nacht, und die Bomben wollten sie nicht entkommen lassen. Wieder erwachte die Angst und damit ihre
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