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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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vorbeifahrenden Schiffen an der Reling versammelt hatten. Dann senkten sie ergeben die Köpfe. Sie warteten auf das Urteil.
    Es fiel ein Schuss. Einer der Männer griff sich an die Schulter und drehte sich halb herum, bevor er auf dem Flügel in die Knie ging. Ein weiterer Schuss tötete ihn. Er fiel vornüber und blieb, den Oberkörper halb im Wasser, liegen. Die drei übrigen Besatzungsmitglieder begannen panisch auf dem Flügel umherzulaufen, als würden sie nach einer Deckung suchen. Einer von ihnen versuchte, zurück ins Cockpit zu klettern. Er wurde in den Rücken getroffen und stürzte auf den Flügel; von dort rollte er ins Wasser. Die beiden Überlebenden sanken auf die Knie und falteten flehend die Hände.
    Sie hatten begriffen, was geschehen war. Die Verwandlung war nicht gelungen, sie waren nicht zu Menschen geworden. Sie waren noch immer der Feind, und der Beweis hing über ihren Köpfen in Form der
schwarzen Wolke, die einmal die Mary Luckenbach gewesen war. Die Oregonian lag nicht weit entfernt auf der Seite, sie sank allmählich, nachdem drei Torpedos sie auf der Steuerbordseite getroffen hatten. Die Hälfte der Besatzung war barmherzig ertrunken, der Rest hatte sich an Bord der St. Kenan retten können. Dort kotzten sie nun Öl. Sie hatten Erfrierungen an den Gliedern, und vermutlich würden Amputationen notwendig werden.
    Es war wie ein Echo der Nächte, in denen die Besatzung der Nimbus den Funkverkehr der englischen Luftwaffe gehört und jeder von ihnen sich gewünscht hatte, dass ein Deutscher vor ihm stand, in den er seinen Revolver entladen konnte. Endlich hatten sie den Feind vor Augen, nicht eine Kriegsmaschine, sondern lebendige, verletzbare Menschen, denen sie Schmerzen zufügen, an denen sie sich rächen konnten. Endlich gab es eine Chance, das enorme Ungleichgewicht, mit dem sie lebten, auszugleichen.
    Damals hatte Knud Erik auf der anderen Seite gestanden und gehofft, er wäre das Ziel der Kugeln. Nun spürte er dieselbe Mordlust wie die anderen, unvermittelt und heftig.
    In ihm war das Ungleichgewicht größer als bei manchem anderen.
    Er sah die beiden Männer, die auf dem Flügel des abgeschossenen Flugzeugs knieten. Er sah die Seeleute, von denen Hunderte an der Reling der vorbeifahrenden Schiffe standen, einige mit Gewehren in der Hand, die Kanoniere auf ihren Plätzen hinter den Geschützen. Sie schossen mit leichtem Herzen, als stünden sie an einem Schießstand auf dem Jahrmarkt. Sie hatten wohl das Gefühl, wieder zu Männern zu werden, denn nur auszuhalten und zu erdulden war kein Leben für Männer. Nun antworteten sie wieder.
    Die Kugeln peitschten das Wasser um das abgeschossene Flugzeug auf. Ein weiteres Besatzungsmitglied wurde getroffen. Er wurde nach hinten geschleudert, wie weggefegt von einer mächtigen Hand, die die Sinnlosigkeit seines Lebens und der Gebete demonstrieren wollte, die er aufsagte, um dieses Leben zu retten. Der Schuss musste aus einem der großkalibrigen Geschütze gekommen sein. Der Mann landete im Wasser und war sofort verschwunden.
    Der Letzte der Überlebenden sank in sich zusammen. Seine gefalteten Hände lösten sich voneinander und fielen auf die Oberschenkel. Den
Oberkörper beugte er vornüber. Er entblößte den Nacken, als erwartete er einen Genickschuss.
    Es wurde still. Die Männer senkten die Gewehre. Etwas Feierliches lag in diesem Augenblick. Es schien, als hielten sie die Luft an, bevor sie die Hinrichtung vollendeten. Langsam wurde ihnen klar, was sie getan hatten. Ihr Blutdurst war gestillt, noch bevor der Feind ausgelöscht war.
    Knud Erik schob den Kanonier zur Seite. Er war ein untrainierter Schütze. Die Kugeln, die aus dem Maschinengewehr spritzten, zogen einen langen Schaumstreifen über das Wasser, bevor er mit seinen Schüssen das Flugzeug erreichte. Dann trafen sie ihr Ziel.
    Er hatte einen Menschen getötet, und alles in ihm drehte sich um.
    Schluchzend sank er über dem Geschütz zusammen, ohne das erhitzte Metall zu beachten, das sich durch die Haut seiner Hände brannte.

    Sie hatten die Bäreninsel auf dem 74. Breitengrad nördlich hinter sich gelassen, als der Befehl der britischen Admiralität kam. Verteilen. Knud Erik wusste von der vorbereitenden Sitzung in Hvalfiorður auf Island, dem Ausgangspunkt des Konvois, und von jedem anderen Konvoi, mit dem er bisher gefahren war, dass dieser Befehl nur ein Todesurteil sein konnte. Es galten viele Regeln bei einer Fahrt im Konvoi, eine war jedoch die wichtigste von allen:

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