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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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aber wir ziehen es vor, uns allein durchzuschlagen.»
    Richter kletterte mit dem Kompass die Leiter hinunter. Seine Männer saßen da und schlugen mit den Armen, um sich warm zu halten. Wenn es auffrischte, würde das Wasser über sie hinweggehen und in einen Panzer aus Eis einschließen.
    Dennoch zogen sie das Rettungsboot vor.
    Die Männer legten sich in die Riemen, und Knud Erik befahl volle
Kraft voraus. Er stand auf der Brücke und schaute den Booten, die rasch kleiner wurden, lange nach.
     
    Am folgenden Tag tauchte eine einzelne Junkers am Horizont auf und flog direkt auf sie zu. Ihre Maschinengewehre begannen bereits aus weitem Abstand zu rattern, und die Kanoniere auf der Brücke schossen zurück. Das Steuerhaus wurde mehrfach getroffen, aber keiner der Männer auf der Brücke. Dann klinkte die Junkers die Bombe aus. Das Flugzeug flog so niedrig, dass es beinahe mit dem Mast kollidierte. Die Bombe explodierte unweit der Steuerbordseite im Wasser, nicht dicht genug, um den Rumpf aufzureißen, aber nah genug, um die Nimbus durch die Detonation halb aus dem Wasser zu heben und mit einer Gewalt wieder eintauchen zu lassen, dass ein Dampfrohr im Maschinenraum platzte und die Maschine aussetzte. Sie waren nicht mehr manövrierfähig.
    Die Junkers wendete und kam heulend zurück. Die Geschütze feuerten mit voller Kraft. Noch einmal wurde das Steuerhaus durchlöchert. Die Männer warfen sich auf den Boden. Nur der Kanonier auf der Brückennock stand noch aufrecht. Sie warteten auf die Explosion, die signalisierte, dass die Nimbus den Todesstoß empfing. Das Schiff war beladen mit britischen Valentin-Panzern, Lastwagen und TNT. Bekamen sie einen Volltreffer, wäre keine Zeit mehr, in die Boote zu gehen. Sie alle wussten es.
    «Komm schon, zum Teufel!» Knud Erik hörte sich selbst fluchen.
    Draußen schoss der Kanonier weiter, als hätte er einen Krampf in den Händen. Hinter dem Hacken der Geschütze hörten sie, wie der Motorenlärm des Flugzeugs langsam erstarb. Sollte der Pilot wirklich beschlossen haben, sie zu verschonen? Sie blieben auf dem Kajütboden liegen, außerstande zu glauben, dass die Gefahr vorüber war. Jeden Moment konnte der Lärm der Flugzeugmotoren wieder anschwellen, und dann wäre es vorbei. Es blieb ruhig. Dann registrierten sie, dass das Geschütz auf der Brückennock still war.
    «Es ist vorbei», sagte der Kanonier.
    Sie zitterten, als sie auf die Beine kamen.
    Die Junkers war ein kleiner Fleck dicht am Horizont.
    Der Pilot musste auf dem Heimweg von einer Jagd gewesen sein, als
er sie entdeckte. Er verfügte nur noch über eine Bombe und hatte es versucht.
    Die Nimbus hatte einmal mehr bewiesen, dass sie ein glückliches Schiff war.
     
    Lieber Knud Erik,
    tritt einen Mann in den Dreck und beobachte, was er unter deinem Stiefel macht. Kämpft er, um wieder hochzukommen? Schreit er über die Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt? Nein, er liegt dort, stolz auf all die Tritte, die er erträgt. Seine Männlichkeit ruht in seiner törichten Hartnäckigkeit.
    Was macht so ein Mann, wenn er unter Wasser gehalten wird? Kämpft er, um wieder hochzukommen?
    Nein, sein Stolz liegt in seiner Fähigkeit, die Luft anzuhalten.
    Ihr lasst die Wellen über euch strömen, ihr habt gesehen, wie das Schanzkleid eingeschlagen wird, wie Masten über Bord gehen, wie das Schiff ein letztes Mal eintaucht und sich nicht wieder aufrichten kann. Ihr habt zehn Jahre lang die Luft angehalten, zwanzig Jahre, hundert Jahre. In den Jahren um 1890 hattet ihr dreihundertvierzig Schiffe, 1925 waren euch noch einhundertzwanzig Schiffe geblieben, zehn Jahre später war auch diese Zahl halbiert. Wo sind sie hin? Uranus, Svalen, Smart, Star, Kronen, Laura, Frem, Saturn, Ami, Danmark, Eliezer, Ane Marie, Felix, Gertrud, Industri und Harriet? Spurlos verschwunden, zerquetscht vom Eis, kollidiert mit Trawlern und Dampfern, untergegangen, zu Wracks geworden, bei Sandø, Bonavista, gestrandet in der Bucht von Waterville und bei Suns Rock.
    Weißt du, dass jedes vierte Schiff, das auf Neufundlandfahrt ging, nie zurückkam?
    Was braucht es, um euch davon abzuhalten? Fallende Frachtraten? Aber die Frachten fallen und fallen, seit zehn Jahren um die Hälfte. Und ihr habt weniger Heuer bekommen, die Verpflegung war noch elender als vorher, aber ihr habt die Zähne zusammengebissen. Ihr habt geübt, unter Wasser die Luft anzuhalten.

    Ihr seid dorthin gefahren, wohin es niemand wagte oder wollte. Ihr wart die Letzten.
    Chronometer

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