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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sich nur mit fremden Seeleuten zusammentaten, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Aber das machte sie nur interessanter, und außerdem hatte die Besatzung der Nimbus keine Geheimnisse.
    «Sie sollen nur kommen», meinte Wally, «ich lass mich gern ausspionieren.»
    Er ging über die Tanzfläche auf die Damen zu und zog einen Lippenstift aus der Tasche. Sie sahen mit leuchtenden Augen zu ihm auf und kicherten. Er reichte den Lippenstift einer üppigen Blondine in einem blassblauen Kleid, die sofort begann, die Lippen ihrer Nachbarin nachzuziehen. Der Lippenstift ging reihum, und die roten Münder drehten sich ihm in einem gemeinsamen Lächeln zu. Er spitzte die Lippen zu einem Kuss, und ein erneutes Kichern lief wie eine Welle durch die Frauen.
    Wally ging zur Bühne, auf der der Ziehharmonikaspieler noch nicht mit dem abendlichen Unterhaltungsprogramm begonnen hatte, und steckte ihm ein paar Zigaretten zu. Der Musiker klemmte sie hinters Ohr und griff zur Harmonika. Ein klagendes Geräusch ertönte, als er die Luft herausdrückte. Dann spielte er einen schweren, stampfenden Rhythmus.
    Wally kehrte zu den Frauen zurück und verbeugte sich vor einer von ihnen. Mit einer überraschend behänden Bewegung sprang sie auf und führte ihn mitten auf die Tanzfläche, wo sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er beantwortete ihre Geste, indem er seinen Arm um ihren fülligen Leib schlang. Sie war älter als er und führte ihn ohne zu zögern durch die ungewohnten Tanzschritte. Als das Stück zu Ende war, verbeugte sie sich und kehrte an ihren Platz zurück.
    «Na ja, da hast du aber nicht viel von gehabt.»
    Es war Anton. Wally wandte sich ihm zu.
    «Das hier sind lediglich die einleitenden Verhandlungen. Erst zeige ich eine kleine Auswahl meines Warensortiments. Sie brauchen dann eine gewisse Bedenkzeit.»
    «Du scheinst ja nicht viel Selbstvertrauen zu haben, wenn du sie so kaufen willst.»
    Helge sah ihn spöttisch an. Die anderen protestierten.
    «Hör doch auf mit diesem scheinheiligen Mist», meinte Absalon.
«Das machen wir doch alle ab und zu so. Du hättest doch mit dieser Kartoffelfresse gar keine Chance, wenn du nicht ein paar Scheine auf der Kommode lassen würdest.»
    Die anderen lachten.
    «Ach, die sind genau wie wir», sagte Wally. Es lag eine ungewohnte Zärtlichkeit in seiner Stimme. «Die brauchen es auch. So wie wir. Wir könnten so eine Kommunistenmöse total umsonst vögeln. Aber es schadet doch nichts, vorher ein bisschen Wind zu machen. Mal ehrlich, die sehen doch nicht gerade aus, als ob es hier besonders lustig ist.»
    Knud Erik beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Er saß abseits und ließ den Blick prüfend über die Frauen am anderen Ende des Saals gleiten. Befand sich sein Todesengel unter ihnen? Er war sich nicht sicher, ob er sie ohne Uniform wiedererkennen würde. Eine Maschinenpistole in den Händen einer Frau war ein ungewöhnlicher Anblick, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie hatten sich in die Augen gesehen, und er fühlte sich merkwürdig sicher, dass sie, wenn sie an diesem Abend hier wäre, wieder versuchen würde, seinem Blick zu begegnen. Er brauchte nicht nach ihr zu suchen. Sie würde ihn finden.
    Dennoch fuhr er fort, ein Gesicht nach dem anderen zu mustern. Die meisten wirkten plump und verhärmt. Sie drückten eine unendliche Müdigkeit aus, so dicht am Aufgeben, dass ein Gefühl des Mitleids in ihm aufstieg; aber er suchte keinen Menschen mit seinen Problemen. Er suchte die Selbstvergessenheit in ihrer extremsten Form.
    Sie kamen drei Abende in den Klub, ohne dass er diese Unruhe spürte, die der prüfende Blick einer Frau stets auslöst. Es gab andere, die ihn ansahen. Er trug seine Kapitänsuniform, um ihr zu erleichtern, ihn wiederzuerkennen, aber mit den Goldstreifen am Ärmel und an der Mütze zog er auch andere Blicke auf sich, allerdings nicht den, den er suchte. Es gab eine junge Frau in einem grünen Kleid, beinahe hatte es die gleiche Farbe wie ihre Augen, die ihn unablässig anstarrte. Er schaute weg und reagierte nicht auf ihr offensichtliches Interesse.
    Es wurde jetzt eifrig getanzt. Männer und Frauen setzten sich zueinander an die Tische. Die Barriere zwischen den russischen Frauen und den fremden Seemännern war durchgebrochen. Wally, der erfahrene große Junge mit seinem gewaltigen Appetit auf Frauen, stand überall im Mittelpunkt.

    Knud Erik blieb auf dem roten Plüschsofa sitzen, ihn drängte es nicht auf die Tanzfläche.
    An diesem Abend

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