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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hattet ihr nicht mehr an Bord, ihr konntet sie euch nicht mehr leisten. Den Längengrad konntet ihr nicht bestimmen, und wenn ein Dampfer vorbeikam, musstet ihr die Signalflagge hissen und fragen: Wo sind wir?
    Ja, wo seid ihr?
    Verzweifelt …
    Deine Mutter
     
    Wally sah es als Erster.
    Sie standen auf der Brücke und überwachten die Löscharbeiten, als er sich an die anderen wandte.
    «Seht ihr nicht, was für ein herrlicher Ort das hier ist?», fragte er begeistert.
    Sie schüttelten sich in ihren Dufflecoats und schauten über Molotovsk. Im Hafen lagen halb versunkene, zerschossene Schiffe. Am Kai türmten sich große Trümmerhaufen, die einmal Lagerhäuser gewesen waren. Ein Stück weiter entfernt ragten einige barackenähnliche Gebäude aus der flachen, felsigen Landschaft, viele von Ruß geschwärzt und mit Planen bedeckt. Es war Hochsommer, doch obwohl die Sonne fast vierundzwanzig Stunden am Himmel stand, sorgte sie kaum für eine mildere Luft. Das konstante Licht vermittelte ihnen eher das Gefühl, als hätte man ihnen die Lider abgeschnitten, als befänden sie sich in einer Welt, in der der Schlaf abgeschafft war. Als wüchse in ihren Köpfen eine graue Wollmasse, eine lauernde Apathie, die der grauen Felslandschaft, dem Licht und dem Bewusstsein entsprang, sich verteufelt weit von jedweder vernünftigen Zivilisation zu befinden.
    «Holt die Zwangsjacke», sagte Anton mürrisch, «der Bursche kriegt den Koller. Er glaubt, er ist in New York.»
    «Das hier ist besser als New York. Nur weil der erste Ingenieur dort unten in der Dunkelheit blind wie ein Maulwurf geworden ist, müssen wir andere es doch nicht sein.»

    Endlich sahen sie es auch, und hinterher verstanden sie nicht, dass sie es nicht sofort gesehen hatten, als sie Molotovsk anliefen.
    Es gab nicht einen Mann am Kai. Es waren Frauen, die die Ladung löschten und die Kisten mit Munition im Laderaum an Taljen befestigten. Es waren Frauen, die mit Maschinenpistolen in den Händen auf dem Kai patrouillierten, wo magere, dürftig bekleidete deutsche Kriegsgefangene die Kisten für den Weitertransport auf die Ladeflächen der Lastwagen stapelten. Es waren Frauen, die hinter dem Steuer saßen und darauf warteten, die Fracht an die Front zu bringen.
    «Schau dir den Arsch an», sagte Helge und deutete darauf.
    Viel gab es indes nicht zu sehen. Die Frauen trugen Filzstiefel und weite, lose sitzende Overalls, die die Körperformen kaschierten. Sie konnten allenfalls die Statur ahnen, die sich unter den faltigen Anzügen verbarg – ob sie schlank oder kräftig, groß oder klein war. Vereinzelt gab es junge Frauen, die meisten sahen jedoch aus, als wären sie über dreißig, aber es fiel schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie hatten breite Gesichter und eine graue, ungesunde Hautfarbe. Die Haare verbargen sie unter Schirmmützen oder Kappen, nur vereinzelt trug jemand ein Kopftuch.
    Es war drei Monate her, dass die Männer zuletzt Landurlaub gehabt hatten, und der Anblick der Frauen im Laderaum und auf Deck reichte, um die wichtigste Komponente ihrer Begierden zu wecken, die Phantasie. Jeder fing an, von seinem bevorzugten Teil der weiblichen Anatomie zu schwärmen, während sie den Frauen mit den Augen ihre grobe, dreckige Arbeitskleidung und die Uniformen auszogen, in der wahnsinnigen Hoffnung, dass sich unter jeder einzelnen Uniform ein Pin-up-Girl verbarg – wie ein Schmetterling in einer schmutzig grauen Puppe.
    Knud Erik trug seine Kapitänsuniform, die er sonst nie anzog. Doch man wusste, dass die Kommunisten nur Uniformen respektierten, daher war es kluge Diplomatie, so offiziell wie möglich auszusehen, wenn er irgendetwas in den Verhandlungen mit den sowjetischen Behörden erreichen wollte. Er bemerkte eine Soldatin, die ihn unverwandt anstarrte. Ihr gefällt die Uniform, dachte er. Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest. Sie war schlank, hatte das aschblonde Haar stramm im Nacken hochgebunden und war ungefähr in seinem Alter. Er wusste nicht, warum er ihren Blick erwiderte. Es war ein Reflex, der sich nicht beherrschen ließ, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass sie es als Provokation auffassen
könnte. Sie schlug die Augen nicht nieder, sondern hielt seinem Blick stand. Es war eine Kraftprobe. Anders konnte er es sich nicht erklären, obwohl er nicht wusste, worin der Sinn bestand.
    Seine Konzentration wurde durch ein lautes Krachen abrupt unterbrochen. Eine Munitionskiste hatte sich aus dem Flaschenzug gelöst, war auf den Kai

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