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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hätte.
    Trotz wurde in ihnen wach. Es war nicht nur Trotz gegen den Feind, sondern auch gegen den Freund, so als hätten sie nicht mehr die Kraft, zwischen den beiden zu unterscheiden.
     
    Für Knud Erik stellte der Befehl eine Befreiung dar. Er musste sich nicht länger um die Ertrunkenen sorgen. Nun ging es nur um ihn und seine Besatzung. Endlich konnte er sich dem Zynismus hingeben, der immer dann zutage tritt, wenn eine Gewissenskrise lang genug anhält. Sie waren allein auf dem Meer, so wollte er es. Allein, ohne die roten Lichter.
    Er änderte den Kurs und steuerte nördlich auf Hope Island zu, dem Eisrand so nah wie möglich. Dichter Eisnebel lag über dem gesamten
Gebiet. Er befahl der Mannschaft, das Schiff weiß zu streichen. Sie blieben einige Tage liegen. Sie löschten die Kessel, damit der Rauch des Schornsteins sie nicht verriet. Das Packeis scheuerte am Rumpf. Die Stahlplatten des Schiffs gaben mit einem bedrohlichen Knarren nach, hin und wieder schlug es in ein lautes Diskantgeräusch um, das an einen Schrei erinnerte. Die Nimbus war ein glückliches Schiff, doch nun warnte der Rumpf unter dem Druck des Eises, dass auch das Glück sich verbrauchen konnte.
    Knud Erik dachte an die Kristina, die einst im Eis festgesessen hatte. Das schwere Schiffsholz war anders mit dem Druck umgegangen. Es musste nicht wie der Stahl seine Stärke beweisen. Das Eis hatte sich abgenutzt, bis es das Gewicht, das das Schiff zu zerdrücken drohte, einfach anhob.
    Er ignorierte den kreischenden Stahl. Lieber das Eis als die U-Boote. Es schien, als würde er davon träumen, die Nimbus einfrieren zu lassen, bis die Welt wieder auftaute und die Waffen schwiegen. Sein ganzes Leben hatte er als Seemann gegen das Meer gekämpft. Nun suchte er das gefährliche Eis, als wäre es ein Freund.
     
    Knud Erik schaltete das Funkgerät ein und versammelte die Besatzung darum, so wie sie es getan hatten, als sie die Frequenzen der britischen Luftwaffe abhörten. Sie vernahmen nichts anderes als Notrufe, ein S.O.S. nach dem anderen tönte aus dem Äther, und jeder Notruf war bereits eine Todesnachricht. Es lagen nur Minuten zwischen dem Angriff und dem Ende des Schiffs. Niemand kam ihnen zu Hilfe. Jedes Schiff versank allein in dem eiskalten Wasser. Die Carlton, die Daniel Morgan, die Honomu, die Washington und die Paulus Potter. Sie zählten zwanzig Schiffe. Es gab keine Verstecke, auch nicht hier im Eisnebel am Ende der Welt.
    Sie brachen auf und folgten der Packeisgrenze ostwärts. Sie hielten sich noch immer nördlich des 75. Breitengrades, bis sie Novaja Zemlja erreichten. Von dort aus ging es südlich in Richtung Weißes Meer. Auf offener See stießen sie auf vier Rettungsboote. Es waren die Überlebenden der Washington und der Paulus Potter. Beide Schiffe waren von einer Formation Junkers 88 versenkt worden, deren Besatzungen sie überflogen, als die Mannschaften in die Boote gingen. Die Piloten hatten ihm
munter zugewinkt, während ein Kameramann sie für die deutsche Wochenschau filmte. Sie hatten nicht zurückgewinkt.
    Kapitän Richter von der Washington kam an Bord. Er bat um die Erlaubnis, eine Seekarte einsehen zu dürfen. Nachdem er eine Weile über den Kartentisch gebeugt dagestanden hatte, fragte er, ob sie einen Kompass entbehren könnten.
    Seine Männer saßen noch immer in den Rettungsbooten.
    «Was wollt ihr mit einem Kompass?», fragte Knud Erik. «Wir nehmen euch an Bord.»
    Richter schüttelte den Kopf.
    «Wir ziehen es vor, auf eigene Faust weiterzufahren.»
    «In einem offenen Boot? Es sind vierhundert Seemeilen bis zur nächsten Küste.»
    «Wir wollen sie gern lebend erreichen», erwiderte Richter und sah ihn ruhig an.
    Knud Erik dachte einen Moment, dass der Kapitän noch unter der Schockwirkung der Granaten stand.
    «Das meine ich doch», sagte er in einem Ton, als müsste er ein widerspenstiges Kind überzeugen. «Kojen können wir euch nicht bieten, aber einen warmen Platz zum Schlafen finden wir schon. Wir haben reichlich Proviant, und bei diesem Wetter machen wir neun Knoten Fahrt. In ein paar Tagen sind wir da.»
    «Du bist dir doch im Klaren darüber, was mit dem Rest des Konvois geschehen ist?», fragte Richter in unverändert ruhigem Tonfall.
    Knud Erik nickte.
    «Ein Rettungsboot ist der sicherste Ort, an dem man sich aufhalten kann. Die Deutschen vergeuden ihr Pulver nicht an ein paar Männer in einem Boot. Sie suchen nach den Schiffen. Euch werden sie auch noch erwischen. Ich danke für das Angebot,

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