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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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den Jungen von der Seite, ob seine Worte irgendeinen Eindruck auf ihn machten. Sie taten es nicht. Der Junge starrte vor sich hin, sein Blick war verbissen. Er hatte seine eigene Meinung über Herman, da brauchte der Kapitän gar nicht erst versuchen, sie zu ändern.
    Knud Erik wusste genau, warum es so war. Vor dem Krieg wären sie alle schaudernd vor Herman zurückgewichen, wenn sie die Wahrheit über ihn erfahren hätten. Sie hätten seine Gesellschaft gemieden und ihm ihre Verachtung gezeigt, wenn sie mutig genug gewesen wären. Doch der Krieg hatte ihre Abwehrmechanismen zerstört. Sie hatten zu viel gesehen und möglicherweise auch bei zu vielen Dingen mitgemacht. Wieso sollte der Schiffsjunge die Warnung seines Kapitäns ernst nehmen? Er hatte doch nur wenige Monate zuvor gesehen, wie der einen notgelandeten Piloten abgeschossen hatte, der auf den Knien lag und um sein Leben bettelte. Wo war der Unterschied zwischen ihm und Herman?
    Der Krieg machte sie alle gleich, und er hoffte nur, dass Herman niemals zu Ohren kommen würde, was er getan hatte. Knud Erik konnte sich seinen Blick vorstellen.
    «Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in dir steckt», würde Herman sagen, voller boshafter Freude darüber, dass ein anderer seinen schlimmsten Regungen nachgegeben hatte.
    Herman war für den Krieg wie geschaffen. Er war die Sorte Mensch,
die sich darin zu Hause fühlte. Er verfügte über die Fähigkeit, von der Anton behauptete, dass man sie sich erwerben müsse, um zu überleben. Er konnte vergessen. Aber er war kaum noch ein Mensch. Das große brutale Kraftbündel war reduziert auf einen hilflosen Fleischklumpen, und doch gab er nicht auf. Herman hängte sich nicht an die Vergangenheit, er stellte sich auf das ein, was war. Einst hatte er vier Gliedmaßen besessen. Das war die eine Art von Leben. Nun hatte er nur noch einen Arm. Das war ein anderes Leben, aber es war doch ein Leben. Herman schien wie ein Regenwurm zu sein, den man in der Mitte durchschneidet, ohne ihm zu schaden. Er stellte tatsächlich so etwas wie einen Pionier dar: Im Krieg mussten alle so werden wie er oder untergehen.
     
    «Er hat an der Schlacht um den Guadalkanal im Pazifik teilgenommen, Sir.»
    Der Schiffsjunge stand noch immer neben ihm.
    «Hat er dir das erzählt?»
    «Ja, Sir. Sein Schiff wurde versenkt, und er schwamm eine Stunde im Wasser und kämpfte mit einem Hai. Er sagt, dass man einem Hai nur aufs Maul oder ins Auge schlagen muss. Das sind seine wunden Punkte. Aber der Hai kam immer wieder zurück. Die Haut eines Hais fühlt sich an wie Sandpapier, und wenn man ihn berührt, kommt es zu Hautabschürfungen.»
    «Er schlug den Hai in der dritten Runde k. o. und hatte nur eine Hautabschürfung?»
    Knud Erik konnte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht unterdrücken.
    «Nein, Sir», antwortete der Schiffsjunge.
    Die Treuherzigkeit in seiner Stimme beschämte Knud Erik.
    «Der Hai wurde von einem Schiff abgeschossen, das ihm zu Hilfe kam. Vorher hatte er ihm aber noch ein Stück seines Beins und ein bisschen von seinem Unterarm abgebissen.»
    «Wahrscheinlich hat er dir die Narben gezeigt?»
    «Nein, Sir. Er sagt, die säßen auf den Teilen, die amputiert wurden.»
    «Dann hat er seinen Arm und die Beine also nicht durch den Hai verloren?»
    «Nein, Sir. Das war erst später. Das waren Erfrierungen.»

     
    Der Kern der Besatzung kam aus Marstal. Knud Erik, Anton, Vilhjelm und Helge. Dann gab es Wally, einen Halbsiamesen, und Absalon, der zwar in Stubbekøbing aufgewachsen war, dessen Wurzeln aber vermutlich in Westindien lagen, da sich irgendwann einmal ein paar von den Inseln in dänischem Besitz befunden hatten. Das waren die Dänen an Bord der Nimbus. Der Rest kam aus aller Herren Länder. Es gab zwei Norweger, einen Spanier und einen Italiener, zwei Inder, einen Chinesen, drei Amerikaner und einen Kanadier; die Kanoniere waren alle Briten, ebenso wie der Schiffsjunge. Die Nimbus war ein schwimmendes Babel im Krieg gegen einen Gott, der den Turm in Schutt und Asche legen wollte.
    Was hielt sie zusammen?
    Er war es, der Kapitän. Er war ein schwaches Zentrum, zerrissen von seinen eigenen inneren Widersprüchen, und doch auch die Verkörperung der Befehle, die auf dem Schiff gegeben wurden und denen sie zu folgen hatten, wenn sie mit heiler Haut im Hafen ankommen wollten.
    Dachten sie je darüber nach, warum sie noch zur See fuhren? War es Pflicht, Überzeugung oder etwas Tieferes, das sie wieder und wieder die Gefahr suchen

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