Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
den Beifahrersitz des Lastwagens Platz. Der Fahrer gab Gas und fuhr aus dem Hafen.
    Der Mann im Rollstuhl saß abwartend da. Knud Erik trat neben ihn und wandte sich an die Besatzung, die in einem Halbrund auf Deck stand und den Neuankömmling neugierig betrachtete.
    «Ich möchte euch gern unseren Gast vorstellen», sagte Knud Erik. «Sein Name ist Herman Frandsen.»
    Vilhjelm und Anton rissen schockiert die Augen auf. Es war achtzehn Jahre her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatten. Herman hatte sich verändert, er sah verlebt und mitgenommen aus, und man musste schon seinen Namen hören, um ihn wiederzuerkennen.
    «Einigen von uns hier an Bord ist er bekannt. Aber nicht wegen seiner guten Taten. Er ist ein Mörder und Notzuchtverbrecher, und wenn einer von euch ihn unglücklicherweise über Bord schieben sollte, steht darauf eine Flasche Whisky als Belohnung.»
    Herman sah vor sich hin und schien unbeeindruckt von der Rede, die Knud Erik gerade über ihn gehalten hatte.
    «In der Zwischenzeit müssen wir wohl eine Arbeit für dich finden», fuhr Knud Erik fort. «Du hast dich genug ausgeruht. Steh auf!»
    «Ich kann nicht.»
    Mit seinem verbliebenen Arm schlug Herman ruhig die Decke zur Seite. Seine Hosenbeine waren von den Knien abwärts leer. Er hatte nicht nur einen Arm verloren. Man hatte ihm auch beide Beine amputiert.

    Herman wurde nicht über Bord geworfen, als sie Molotovsk verließen.
    Es gab auch niemanden, der sich darum bemühte, die Flasche Whisky zu gewinnen, die Knud Erik in Aussicht gestellt hatte, wenn jemand Herman zu einer wohlverdienten Ruhestätte am Meeresgrund verhalf.
«Ich habe noch das Wichtigste», erklärte Herman der Gruppe, die sich in der Messe um ihn versammelt hatte. «Meine rechte Hand, den besten Freund des Seemanns auf langen Freiwachen. Und ich bin immer noch in der Lage, einen zur Brust zu nehmen. Was kann ein Mann sich mehr wünschen?»
    Seine «Wichshand» nannte Herman die Hand, die ihm noch geblieben war.
    «Shake hands» , sagte er und streckte die Pfote aus, nachdem er ihr diesen Namen gegeben und erklärt hatte, was damit alles noch möglich war.
    «Ich hab sie gewaschen.»
    Er ließ die Tätowierung auf dem Arm spielen.
    «Der alte Löwe brüllt noch.»
    Sie stellten sich in einer Reihe auf, um ihn zu begrüßen.
     
    Herman hielt sich den größten Teil des Tages in der Messe auf. Er half mit, wenn gegessen werden sollte. Er deckte den Tisch und räumte wieder ab. Das gelang ihm mit dem einen Arm gerade noch. Es war eine demütigende Tätigkeit, aber es schien Herman nichts auszumachen. Es gab immer jemanden, der mit ihm eine Runde an Deck drehte, wenn das Wetter es zuließ. Irgendjemand, Knud Erik wusste nicht, wer, hatte eine Talje zugerüstet, mit der Herman sich auf die Brücke hochziehen konnte. Eines Tages saß er dort auf einem hohen Stuhl und bediente mit seiner kräftigen Hand das Ruder.
    Knud Erik hatte den strikten Befehl gegeben, dass Herman keinen Alkohol bekommen dürfe, allerdings wusste er selbst, dass dieser Befehl nur seinem heimlichen Wunsch entsprang, Herman das Leben so unerträglich wie möglich zu machen. Dennoch traf er Herman immer wieder deutlich alkoholisiert an. Irgendwo an Bord gab es ein heimliches Wodkalager, und daraus versorgte ihn die Mannschaft. Sie behandelten ihn, als wäre er ein Maskottchen und kein Mörder.
    Es gab drei Menschen an Bord, die nicht mehr leben würden, wenn es nach Herman gegangen wäre. Vilhjelm, Anton und Knud Erik selbst. Auch Fräulein Kristinas Leben hätte ohne ihn einen anderen und glücklicheren Verlauf genommen. Ivar würde noch leben. Dasselbe galt für Jepsen. Die Götter mochten wissen, wie vielen Menschen auf der Welt
Herman seither das Leben genommen hatte, weil sie ihm auf die eine oder andere Weise im Weg standen.
    Und dennoch saß er hier, ruhig, unbeeindruckt, gemütlich und umgänglich, und machte sich bei der Besatzung beliebt, als wäre er kein Ungeheuer und nur deshalb nicht mehr gefährlich, weil man ihm die Glieder abgeschnitten hatte. Vor allem die Jüngeren schienen von ihm fasziniert zu sein. Als der Schiffsjunge mit Kaffee auf die Brücke kam, beschrieb er ihn als einen interessanten Mann, der eine Menge erlebt hatte.
    «Er kann gut erzählen», sagte Duncan. Er war siebzehn Jahre alt und stammte aus Newcastle.
    «Hat er dir auch erzählt, wie er seinem Stiefvater den Schädel einschlug, so dass die Gehirnmasse herausquoll? Da war er noch nicht mal so alt wie du.»
    Knud Erik beobachtete

Weitere Kostenlose Bücher