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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ließ?
    Zu Beginn des Krieges hatte Knud Erik geglaubt, sie hätten sich für den Krieg aus den gleichen moralischen Grundsätzen entschieden, die die Besatzung eines Schiffs zusammenhalten und sich gegenseitig zu Hilfe kommen ließen, wenn irgendetwas schiefging. Das glaubte er inzwischen nicht mehr. Nur dass der alte Gedanke bisher durch keinen neuen ersetzt worden war.
    Es kam vor, dass er Anton recht gab. Es war das Schweigen, das auf dem Schiff den Zusammenhalt garantierte. Wenn sie erst einmal darüber redeten, was sie innerlich beschäftigte, würden sie sich gegenseitig wahnsinnig machen, und alles würde auseinanderbrechen.
    Es war ein Waffenstillstand, und Knud Erik wusste, dass er nicht ewig halten würde.
     
    «Was hat er jetzt wieder erzählt?»
    Er selbst ging nicht in die Messe, also fragte er jedes Mal Duncan aus, wenn der Junge mit Kaffee auf die Brücke kam. Er entschuldigte sich damit, dass er als Kapitän wissen musste, was auf dem Schiff vor sich ging.

    «Er hat erzählt, wie sie torpediert wurden und in die Boote gehen mussten. Das Wasser war genauso klar wie Gin. Er hatte die beiden rot-weißen Streifen auf den Torpedos sehen können, bevor sie einschlugen. Der Koch hatte eine Axt mit aufs Boot genommen und fing an, auf die Reling einzuhacken. ‹Was, zum Teufel, machst du da, Koch?›, hatte der Kapitän gefragt. ‹Ich hacke eine Kerbe in die Reling, damit wir die Übersicht behalten, wie viele Tage wir hier im Boot sitzen.› ‹Wenn du so weitermachst, werden es jedenfalls nicht sehr viele.›»
    Duncan unterbrach sich und schaute Knud Erik an. Man sah ihm an, dass er die gleiche Reaktion erwartete wie in der Messe, wo die Zuhörer Hermans Geschichte mit brüllendem Gelächter aufgenommen hatten.
    Knud Erik verzog keine Miene. Er trank einen Schluck heißen Kaffee.
    «Und was hat er noch erzählt?»
    «Na ja, nach ein paar Tagen haben sie einen Korken gesehen, aber kein Land. Trotzdem hat es sie ziemlich aufgemuntert, denn der Korken musste ja ein Zeichen dafür sein, dass Land in der Nähe war. Es vergingen ein paar Stunden, dann trieb noch ein Korken vorbei. Sie konnten noch immer kein Land sehen und fanden es eigenartig mit all diesen Korken, die mitten im Meer trieben. Und dann entdeckten sie, dass einige von den Männern im Vordersteven ein Whiskylager versteckt hatten und eine Flasche nach der anderen leerten, ohne dass es die anderen mitbekamen. Bei der Gelegenheit holte sich Herman seine Erfrierungen.»
    «Und wie kam es dazu?»
    «Ja, sehen Sie, Sir. Sie fingen an, sich um den Whisky zu prügeln. Und dabei wurde er ins Wasser gestoßen. Herman sagt, es hätte ziemlich lange gedauert, bis sie ihn wieder an Bord zogen.»
    Herman machte sämtliche Tragödien des Krieges, inklusive seiner eigenen, zu einem Witz. Mit seinen Geschichten kam er dem Unsagbaren so nah wie überhaupt nur möglich, ohne dass er die Worte laut aussprechen musste. Darum hörten sie ihm zu.
    Als sie ihm den Spitznamen Old Funny gaben, begriff Knud Erik, dass die Mannschaft nicht länger durch Schweigen zusammengehalten wurde.
    Sondern durch Herman.

     
    Herman konnte wissenschaftlich trinken. Das war die neueste Geschichte, die aus der Messe kam. Old Funny waren bei einer Operation einige überflüssige Eingeweide entfernt worden, und nun hatte er viel Platz dort unten. Es sei wie beim Stauen der Ladung, erklärte er, es müsse möglichst viel Frachtgut hineinpassen. Man musste nach einer Methode vorgehen, und diese Methode hatte er gefunden, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
    Ehrlich gesagt konnten die Männer nicht sehen, dass er anders trank als sie.
    Er schüttete es einfach in sich hinein, der Unterschied war nur, dass Old Funny weitertrinken konnte, wenn andere zu Boden gingen. Und genau das sei der Beweis, dass er wissenschaftlich trinke, behauptete er: Er könne ewig weitertrinken. Was das anging, mussten sie ihm recht geben. Wenn sich einer nach dem anderen zurückzog, um in die Koje zu gehen, saß er noch immer in der Messe und trank weiter.
    Nur einmal hatte Old Funny seinen Meister gefunden.
    In Bristol war damals ein junger Offizier von der Heilsarmee an Bord gekommen, um die Besatzung zum Herrn Jesus Christus zu bekehren. Old Funny hatte ihm eine Wette vorgeschlagen. Wenn ihn der Missionar unter den Tisch trinke, würde er gläubig werden. Wenn er hingegen gewinne, sollte der junge Mann von der Heilsarmee für den Rest seines Lebens die Uniform ablegen.
    «Das war ja nicht nur eine

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