Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
sowjetischen Behörden
vor Ort bestellt wurde. Er fühlte sich abgeholt. Es kamen eine Soldatin und eine Dolmetscherin. Wie gewöhnlich waren beide Frauen. Die Dolmetscherin trug ebenfalls Uniform, aber sie war jung und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das verriet, dass sie sich als Repräsentantin von etwas Großem sah. Der Sowjetstaat sprach durch ihre Worte, die stets im Kommandoton vorgebracht wurden, allerdings in einem Englisch, das besser war als seines.
    Sie hatte ganz leicht Lidschatten aufgetragen. Er konnte sich nicht erklären, woher sie ihn hatte. Im Klub hatte er sie nie gesehen, und er war sicher, dass sie keinerlei Umgang mit irgendwelchen Seeleuten pflegte, die Molotovsk anliefen. Knud Erik dachte, wenn die Gerüchte, die unter den Männern kursierten, der Wahrheit entsprachen und einige der Frauen Spioninnen waren, dann wäre sie eigentlich der richtige Typ dafür.
    In der Regel ging es bei den Treffen um die Fracht. Details, die nicht stimmten, führten zu endlosen Diskussionen, und er kam zu diesen Sitzungen immer in der gleichen resignierten Stimmung. Er wusste, dass er nur einen weiteren Tag mit bürokratischen Schikanen vertrödelte, während er sich beleidigende Bemerkungen über den mangelhaften Kriegseinsatz der Alliierten anhören musste.
    Ein einziges Mal jedoch hatte ihn eine Überraschung erwartet. Man überreichte ihm einen Umschlag mit Schecks für die Besatzung. Ein Kriegszuschlag der Russen, hundert Dollar pro Mann, persönlich unterschrieben von Josef Stalin.
    «Ihr seid schön blöd, wenn ihr damit einfach in eine Bank spaziert und euch die hundert Dollar ausbezahlen lasst», hatte Wally gesagt, als er seinen Scheck in der Hand hielt.
    «Vielleicht sind sie falsch», hatte Helge erwidert, «und wir werden verhaftet.»
    «Einer meiner Freunde, er heißt Stan, hat einen dieser Schecks bekommen und ging damit in eine Bank auf der Upper East Side, um seine hundert Dollar von Väterchen Stalin zu kassieren. Der Kassierer hat ihn hin-und hergedreht. ‹Wart einen Moment›, sagte er zu Stan und brachte den Scheck dem Bankdirektor im vierten Stock, der ihn ebenfalls anglotzte, als hätte er noch nie einen Scheck gesehen. Mein Freund glaubte genau wie Helge, dass irgendetwas faul sei. ‹Ich werde dir zweihundert Dollar dafür geben›, sagte der Bankdirektor. ‹ What? ›, fragte mein Freund. Er
verstand überhaupt nichts. ‹Okay, okay›, sagte darauf der Bankdirektor, ‹dreihundert Dollar.›»
    «Ich versteh die Geschichte nicht», hatte Helge eingeräumt.
    «Es ist die Unterschrift. Stalins persönliche Unterschrift. Die ist viel mehr wert als der Scheck.»
     
    Diesmal ging es jedoch nicht um eine Besprechung über den Inhalt des Laderaums.
    Die Dolmetscherin teilte ihm mit, dass er sie ins Krankenhaus zu begleiten habe.
    «Ich bin aber nicht krank», erwiderte Knud Erik sarkastisch. Er war sicher, dass es sich um ein Missverständnis handelte.
    «Es geht nicht um Sie», sagte die Dolmetscherin in einem Ton, als genösse sie es, ihn zurechtzuweisen. «Es geht um einen Patienten, den Sie auf unseren Wunsch mit zurück nach England nehmen sollen.»
    «Die Nimbus ist kein Lazarettschiff.»
    «Der Patient ist so gesund, wie er sein kann. Er kann auf sich selbst achten. Wir können ihn nicht behalten.»
    «Er ist also imstande, an Bord zu arbeiten?»
    «Das kommt ganz darauf an, wie Sie ihn einsetzen. Er ist im Übrigen Däne, genau wie Sie.»
    Er hatte ihr nie erzählt, dass er Däne war. Sie war gut informiert.
    «Lassen Sie uns aufbrechen», sagte sie kurz angebunden.
    Er hatte erwartet, dass das Krankenhaus von Molotovsk sich in der Nähe des Hafens befand. Stattdessen lag es ein Stück weit außerhalb der Stadt, an einer der Straßen, von denen er geglaubt hatte, sie verlören sich in der Einöde. Ein langes flaches Holzgebäude ohne jegliches Anzeichen, dass sich hinter den ungestrichenen Bretterwänden ein Krankenhaus verbarg. Eine kräftige Frau in einem dreckigen Kittel hatte den Boden in eine Lache aus Wasser und Schlamm verwandelt, in der sie mit einem Schrubber herumfuhrwerkte und vergeblich versuchte, so zu tun, als würde sie den Boden wischen. Es platschte laut unter ihren Füßen, als sie in einen langen halbdunklen Korridor bogen, der voller Betten mit Patienten stand, die, nach den Geräuschen zu urteilen, die sie von sich gaben, alle im Sterben lagen.
    In einem Krankenzimmer, in das kaum noch ein weiteres Bett passte,
saß eine zusammengesunkene Gestalt in einem

Weitere Kostenlose Bücher