Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
angreifenden U-Boote wurden. Damit wurde auch verhindert, dass nachfolgende Schiffe kollidierten. Es gab zahlreiche Beispiele, wie ein einzelnes Abweichen vom Kurs eine ganze Kettenreaktion von Kollisionen ausgelöst hatte, häufig mit vernichtenden Konsequenzen für die beteiligten Schiffe.

    Die Nimbus war im Konvoi ganz zurückgefallen, so dass kein Schiff auf sie auffahren konnte. Knud Erik setzte nur seine eigene Besatzung aufs Spiel, als er von der Brückennock ins Meer sprang. Es war eine von vielen typischen Handlungen während eines Krieges: Moralische Grundsätze und Überzeugungen wurden verteidigt, aber nur, um dafür mit anderen zu brechen. Es war gleichermaßen richtig wie entsetzlich falsch.
    Das kalte Wasser traf Knud Erik wie ein Tritt an den Kopf. Er spürte sofort, wie die Kälte durch die nasse Kleidung drang. Mit einem Keuchen tauchte er aus dem Wasser auf und schaute sich hektisch um, schon fast in Panik. Er sah den ertrinkenden Seemann nicht. Dann wurde er von einer Welle angehoben und konnte ihn erkennen. Er kraulte auf ihn zu, und die ungestüme Bewegung ließ sein Blut schneller zirkulieren. Der Mund des Ertrinkenden stand noch immer offen. Nun hörte er diesen Schrei, der sowohl aus Schmerz als auch aus Ekstase zu bestehen schien. Das Licht der Schwimmweste warf einen roten Schimmer auf das Gesicht. Und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es sich nicht um einen Mann handelte, sondern um eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und schmalen, asiatisch wirkenden Augen. Sie hatte die Augen verdreht, und wenn dieser Schrei nicht gewesen wäre, hätte er sie für tot gehalten.
    Dann war er bei ihr. Die Augäpfel kehrten an ihren Platz zurück, doch ihr Blick war noch immer seltsam abwesend, als ob sie sich auf etwas konzentrierte, das in ihrem Inneren vorging. Er vermutete, dass sie unter Schock stand, und begann, sie zum Schiff zu schleppen. Jetzt musste alles schnell gehen. Die Kälte breitete sich lähmend in seinem Körper aus. In wenigen Augenblicken musste er aufgeben, und er hatte keine Schwimmweste, mit der er sich über Wasser halten konnte.
    Die meisten Männer standen an der Reling und feuerten ihn an, als wäre er ein Läufer kurz vor dem Ziel. Sie hatten eine Leiter am Rumpf heruntergelassen. Absalon stand auf der untersten Stufe und hielt sich mit einer Hand fest, die andere hatte er ausgestreckt. Er war von den hochschlagenden Wellen durchnässt. Irgendjemand warf eine Leine aus. Knud Erik bekam sie zu fassen und ließ sich zur Leiter ziehen. Absalon packte seine Hand und zog ihn herauf. Mit der anderen Hand hielt Knud Erik den Arm der Frau, die noch immer den Eindruck machte, als wäre ihr nicht klar, was hier eigentlich geschah. Erst jetzt bemerkte er,
dass sie aufgehört hatte zu schreien. Stattdessen zeigte sich ein selbstvergessenes Lächeln auf ihrem Gesicht.
    Er zerrte sie aus dem Wasser. Ihr nackter Unterkörper tauchte auf, und er sah, dass ihr die Eingeweide aus dem Leib hingen. Die Nähe des Todes hatte ihren Blick so fern werden lassen. Da sie nicht mehr schrie, musste der Todeskampf schon weit fortgeschritten sein.
    Knud Erik versuchte, sie sich über die Schulter zu legen, aber irgendetwas war im Weg. Sie hielt etwas in den Armen. Da begriff er, dass es nicht ihre Eingeweide waren, die aus einer klaffenden Wunde ihres Unterleibs hingen. Es war eine Nabelschnur. Sie hielt ein Kind in den Armen, ein runzliges, rotfleckiges kleines Menschenbündel, das sie unter Wasser zur Welt gebracht hatte.
    Die Geburt musste bereits begonnen haben, bevor die Hopemount torpediert wurde. In dem eiskalten Wasser, in dem die Kälte ihr lediglich einige wenige Minuten Zeit ließ, hatte die Mutter nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um das ihres Kindes gekämpft.
    Knud Erik fasste der Frau um die Schenkel. Dann hob er sie hinüber zu Absalon. Von der Reling streckten sich ihnen unzählige Hände entgegen.
    In diesem Moment hörte er das dumpfe unterseeische Dröhnen der Wasserbomben, gefolgt von dem Geräusch einer in sich zusammenstürzenden Wassersäule. Er schloss die Augen und wusste, dass die Frau, die er in seinen Armen hielt, nun die einzige Überlebende der Hopemount war.
     
    Lieber Knud Erik,
    heute Nacht wurde Hamburg bombardiert, der Flammenschein erleuchtete den ganzen Himmel. Es heißt, das Feuer habe mehrere Kilometer hoch in der Luft gestanden, und der Asphalt in den Straßen sei geschmolzen. Die ganze Nacht dröhnte es, als würden die Bomben hier auf der

Weitere Kostenlose Bücher