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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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warst damals ja wohl auch noch nicht ausgewachsen. Und dann deine Augen – sie sind nicht mehr ganz dieselben.»
    «Ich dachte, du wärst tot, als du damals verschwunden bist.»
    «Ja, ich muss mich wohl bei dir entschuldigen. Ich war vollkommen verrückt damals. Ich wollte hinaus, die Welt sehen, und dann bin ich mit einem Seemann durchgebrannt. Aber er war mich schon bald leid und ich ihn. So wurde ich selbst Seemann. Ich war Zahlmeister auf der Hopemount.»
    Sie blickte sich in der Runde um.
    «Wo sind die anderen?»
    «Du bist die einzige Überlebende.»
    Sie schaute auf Harald Blauzahn und streichelte mit einem Finger sein Gesicht. Eine Träne rollte ihr über die Wange.
    «Es war Knud Erik, der …», sagte Anton.
    Sie schaute Knud Erik an.
    «Ich habe dir einmal prophezeit, dass du ertrinken würdest. Das war nur, um mich interessant zu machen. Nun hast du mich stattdessen gerettet.»
    «Ich kann es noch schaffen», sagte er. «Also zu ertrinken, meine ich.»
     
    Wer Harald Blauzahns Vater war, verriet Sophie nicht, und es schien auch nicht so, als würde sie besonderen Wert darauf legen. Es war niemand von den ertrunkenen Seeleuten der Hopemount, wie die Männer zunächst vermutet hatten; und so gingen sie davon aus, dass Harald Blauzahn die Frucht einer der vielen zufälligen Mütter war, von denen es in Zeiten des Krieges viele gab. Sie versicherte ihnen, dass sie nicht geplant hatte, während einer Konvoifahrt auf der gefährlichsten Route des Krieges mitten auf hoher See ihr Kind zu gebären. Sie hatte damit gerechnet, vor dem Geburtstermin wieder in England zu sein, aber die
Hopemount war fünf Monate in Murmansk aufgehalten worden, und vor die Wahl zwischen einem russischen Krankenhaus und dem Meer gestellt, hatte sie die See vorgezogen.
    Sophie ging Duncan und Helge in der Messe zur Hand. Ein Heizer zimmerte eine Wiege für Harald Blauzahn. Wie üblich saß auch Herman dort, wenn er nicht in den Bug geschickt wurde, um Ausschau zu halten. Und wenn er nicht gerade den Wodka nach seiner hausgemachten wissenschaftlichen Methode hinunterkippte, benutzte er die Wichshand, um Harald Blauzahn zu wiegen. Zusammen wurden Old Funny und Bluetooth, der hässliche Götze des Krieges und der kleine aufkeimende Samen eines trotzigen, hoffnungsvollen Lebens, zum Mittelpunkt des Schiffs.
     
    Die Nimbus lief Island an, von dort ging es weiter nach Halifax. Von Halifax kehrten sie nach Liverpool zurück. Weihnachten feierten sie auf dem Atlantik.
    Old Funny erzählte seine Geschichten. Von Bluetooth verlangte die Besatzung nichts, Hauptsache, er existierte. Und das tat er wirklich, mit vollgepinkelten und verdreckten Windeln, die aus Geschirrtüchern und Spüllappen bestanden, in die er sich unter Rülpsen und Gurgeln, Schmatzen und Tränen entleerte. Mal hatte er einen roten Po, dann wieder eine Kolik, und doch überwogen die freundlichen Stunden, in denen seine Augen die Messe wie Teleskope erforschten – als wäre sie das Universum, dem er gerade seine Geheimnisse entlockte. Zwanzig erwachsene Männer starrten ihn an, als säßen sie im Kino. Sie mussten ihn anfassen und kitzeln, sich in den Finger beißen lassen und mit den Ohren wackeln. Sie boten sich zum Windelnwechseln und zum Aufpassen an und gaben gute Ratschläge zur Ernährung. In nüchterner Selbsterkenntnis musste Sophie zugeben, dass sie zusammen einen Sachverstand besaßen, der den ihren bei Weitem übertraf. Natürlich hatte sie Bluetooth geboren, aber ausgelernt hatte sie deshalb noch nicht; schließlich war es das erste Mal gewesen, und wenn jemand ihr einen guten Rat geben konnte, nahm sie ihn auch an.
    «Er ersetzt ein ganzes Degaussing», sagte Anton über Bluetooth.
    Zum Degaussing diente ein elektrisches Kabel, das an der Wasserlinie rund um das Schiff lief. Es kehrte den Magnetismus des Schiffes um
und entmagnetisierte es, damit die Nimbus keine Minen anzog. Genauso war Harald Blauzahn. Er sorgte nicht nur für den Zusammenhalt der Mannschaft, er schützte sie, am meisten vielleicht gegen etwas in ihrem eigenen Inneren. Mitten auf dem wogenden Meer schlugen sie in gewisser Weise Wurzeln.
    Deine Wurzeln liegen nicht in deiner Kindheit. Es ist dein Kind, das dich mit der Erde verbindet. Zu Hause ist dort, wo dein Kind ist. Knud Erik begriff dies plötzlich.
    Er fühlte sich mit Bluetooth verbunden. Nicht mit Sophie.
    Sie waren sich zweimal in ihrem Leben begegnet, jedes Mal durch einen Zufall, doch zwei Zufälle ergeben noch kein Schema. Das

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