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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Geschichte hörten, fassten wieder Mut und glaubten, dass es doch ein Leben nach dem Krieg geben könne.
    Dann gab es Kapitän Stein und seine chinesische Besatzung an Bord der Empire Starlight. Die Empire Starlight war das am häufigsten bombardierte Schiff der Geschichte. Vom 4. April bis zum 16. Juni 1942 wurde das Schiff beinahe täglich von deutschen Bombern angegriffen. Messerschmitt, Focke-Wulf, Junkers Ju 88, you name it, manchmal bis zu siebenmal am Tag. Die Empire Starlight erhielt einen Treffer nach dem anderen. Sie lag in Murmansk vor Anker, und die Besatzung hätte an Land gehen können, wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht. Die Empire Starlight war ihr Schiff, das die Mannschaft nicht aufzugeben bereit war. Jedes Mal, wenn es getroffen wurde, reparierten die Männer alles, was es zu reparieren gab. Sie nahmen Überlebende von anderen Schiffen an Bord. Sie schossen vier feindliche Bomber ab. «Kommt nur her!» – das war ihre Einstellung. Es handelte sich nur um einen Haufen Chinesen mit einem amerikanischen Kapitän, aber sie ergaben sich nicht.
    Die letzten Tage campierten sie an Land. Die Empire Starlight war so zerschossen, dass die Besatzung nicht länger an Bord bleiben konnte. Aber sie ruderten weiterhin hinaus und flickten das Schiff, das mit jedem Tag mehr wieder zu ihrem Schiff wurde.
    Sie wollten sich nicht ergeben.
    Es war wie mit Moses Huntington. Eigentlich hätte es gar nicht sein dürfen. Es war wider die Natur. Aber es war so, und jeder, der die Geschichte hörte, biss die Zähne zusammen und schöpfte neuen Mut.
    Und dann gab es noch Harald Blauzahn.
    Der Junge, der in einem Meer voller U-Boote, Torpedos, Wasserbomben und ertrunkener Seeleute geboren worden war, in einem Meer, in dem alle untergingen und nur er auftauchte, in einem Meer, in dem das Leben endete, seines aber begann.
    Alle glaubten, er sei tot, als er an Deck kam und keinen Ton von sich gab. Aber er war nicht tot. Knud Erik schnitt die Nabelschnur durch, die Männer wickelten ihn in Wolldecken, und alle dachten, dass er innerhalb
weniger Tage dem Meer zurückgegeben werden müsse. Aber so war es nicht.
    Es waren die Dänen auf der Nimbus, die ihn Harald Blauzahn tauften. Es gab schließlich schon einen Valdemar und einen Absalon an Bord, warum also nicht auch einen Harald Blauzahn? Aber die Dänen waren an Bord in der Minderheit, so dass man ihn am Ende natürlich Bluetooth nannte.
    Und unter diesem Namen wurde er zum Mythos. Wie Moses Huntington und die Empire Starlight. Mit ihnen hatte er gemeinsam, dass er im Grunde nichts anderes getan hatte, als weit jenseits dessen zu leben, was man erwarten durfte. In seinem Fall sogar vom ersten Atemzug an.
    Seine Mutter hatte keine Einwände gegen den Namen, als sie wieder bei Bewusstsein war. Und das ging schnell. Junge Mütter sind zähe Wesen. Sie war im Übrigen auch Dänin, obwohl sie nicht so aussah. Ihre Großmutter und Mutter stammten aus Grönland, aber die Eskimos waren schließlich auch eine Art Dänen. Ihre Großmutter war eine k’ivitok gewesen, eine Eigenbrötlerin, die allein auf dem Inlandeis umherwanderte und sich nicht unter andere Menschen mischen wollte. Aber dann tat sie es doch, und sogar ziemlich gründlich. Er war Däne und Kunstmaler, ein älterer Mann, dem es niemals vergönnt war, die Tochter zu sehen, deren Vater er war. Das Mädchen hatte dann einen Kanadier namens Smith geheiratet.
    Die Männer saßen im Halbkreis um sie herum. Sie lag in der Koje der Kapitänskajüte, alles andere wäre undenkbar gewesen. Der Ehrengast jedoch war Harald Blauzahn. Er lag an der Brust seiner Mutter und schlief, als hätte er nicht erst vor Kurzem etwas durchaus Ungewöhnlicheres erlebt als eine normale Geburt.
    An dieser Stelle ihres Berichts beugte sich Knud Erik vor und schaute sich Harald Blauzahns Mutter etwas genauer an.
    «Miss Sophie?», fragte er zögernd.
    «Mich hat schon lange niemand mehr so genannt. Weder Misses, noch Miss, obwohl ich nicht verheiratet bin. Nicht dass es irgendeine Bedeutung hätte. Ich habe noch meinen Mädchennamen, Sophie Smith. Ja, das bin ich.»
    «Little Bay?», fragte Knud Erik.

    Nicht weil er eine zusätzliche Bestätigung brauchte. Er wusste nur nicht, was er sonst sagen sollte.
    «Ja, Knud Erik, du bist wiedererkannt. Du brauchst dich nicht vorzustellen. ‹Schlampe› hast du mich genannt, als wir uns voneinander verabschiedeten. Du bist noch immer der gleiche hübsche Bursche. Und du bist groß geworden. Aber du

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