Wir Ertrunkenen
Insel fallen. Das Steilufer bei Voderup ist abgerutscht, zuletzt passierte das 1849, als die Christian VIII. in der Eckernförder Bucht explodierte, und Hamburg ist doch viel weiter weg.
An der Halbinsel wurde ein ertrunkener amerikanischer Pilot gefunden, er hing noch an seinem Fallschirm. Die Deutschen haben befohlen, ihn um sechs Uhr morgens zu beerdigen. Bestimmt, um irgendwelche Zwischenfälle zu vermeiden, aber wir sind alle mit einer Harke und einer Gießkanne auf dem Friedhof erschienen und haben erklärt, dass es in Marstal üblich sei, die Familiengräber frühmorgens zu pflegen. Geglaubt haben uns die deutschen Soldaten bestimmt nicht.
Ansonsten sind die Deutschen hier auf der Insel ruhig und besonnen.
In Marstal ist alles friedlich. Wie immer kommt der Tod vom Meer.
Die Fischer haben Angst, dass ihnen eine Wasserleiche ins Netz geht, und es gibt niemanden, der in diesem Sommer Aal isst, obwohl sie fetter sind als gewöhnlich.
In jedem zweiten Hinterhof werden jetzt Schweine gehalten, obwohl es verboten ist. So muss Marstal vor hundert Jahren ausgesehen haben, als es noch Ställe mitten in der Stadt gab. In südlicher Richtung brennt es, wir hören die Bomber Tag und Nacht.
Es gibt nur noch wenige Schüler an der Navigationsschule, aber die, die noch da sind, genießen die ganze Aufmerksamkeit der vielen Frauen, die ihre Männer seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen haben. Ich verurteile sie nicht. Es mangelt an allem, auch an der Liebe. Ich selbst habe mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, aber nicht alle sind wie ich, und je älter ich werde, desto mehr Verständnis bekomme ich. Ich habe so vieles versäumt. Manches ist selbstverschuldet, anderes nicht. Ich hatte eine große Mission. Ich wollte den Frauen die Möglichkeit geben zu lieben. Heute glaube ich, dass ich verloren habe. Ein wenig habe ich wohl erreicht, allerdings nicht für mich selbst. Im Gegenteil: Dich habe ich verstoßen, und Edith, die inzwischen in Aarhus wohnt, sehe ich nur selten.
Ich dachte einmal, dass eine Frau nicht nur ihre Tugend verliert, wenn sie einem Mann begegnet, sondern auch ihre Träume. Und wenn sie dann einen Sohn zur Welt bringt, erhält sie die Belohnung für ihre verlorene Tugend, aber ihre Träume verliert sie ein zweites Mal.
Ich hatte so vieles mit dir vor. Du wolltest etwas anderes, und so entzog ich dir enttäuscht meine Liebe. Ich habe nie gelernt, bedingungslos zu lieben. Ich hatte nicht den Eindruck, dass das Leben mir etwas
schenkte, also dachte ich, ich müsste es mir selbst nehmen, aber das Leben war an einem Handel mit mir nicht interessiert. Vielleicht ist das Größte, was man erreichen kann, zu lieben, ohne irgendetwas als Gegenleistung zu verlangen. Ich weiß es nicht. Ich kann es wohl nicht mehr unterscheiden. So vieles von dem, was «Liebe» genannt wird, ist für mich nur bitterer Zwang oder Selbstaufgabe.
Ich denke jeden Tag an dich.
Deine Mutter
Jede Gemeinschaft hat ihre eigenen Mythen. Dies galt auch für die Schiffe, die im Konvoi nach Russland fuhren. Die Mythen schienen unglaublich, gingen bis an die Grenzen des Naturwidrigen. Sie ließen dich zuhören und staunen, und doch waren sie im Gegensatz zu den meisten anderen guten Geschichten wahr.
Eine von ihnen handelte von Moses Huntington.
Moses Huntington kam aus Alabama, war schwarz, Stepptänzer und Seemann. Es besaß eine tiefe, melodische Stimme, mit der er sich beim Steppen begleitete. Aber nicht durch seine Fähigkeit als Stepptänzer oder Sänger wurde Moses Huntington, den die Männer um ein Autogramm baten, wenn sie ihn trafen, zu einem Mythos.
Es lag an der Mary Luckenbach.
Knud Erik hatte Moses durchs Fernglas mit einer Kanne Kaffee an Deck der Mary Luckenbach gesehen. Das war der erste Augenblick gewesen. Im nächsten existierte die Mary Luckenbach nicht mehr. Stattdessen stieg eine dunkle, schwelende Rauchwolke in den Himmel, an dem sie sich mehrere Kilometer weit ausbreitete und schwarzen Ruß regnete, als hätte ein Vulkanausbruch und nicht ein Torpedo das Schiff zerstört.
Die Mary Luckenbach war verschwunden. Doch Moses Huntington gab es noch.
Er tauchte eine halbe Seemeile weiter im Konvoi auf und wurde vom britischen Zerstörer HMS Onslaught aus dem Meer gefischt. Wie so etwas möglich war, konnte niemand erklären, auch Moses nicht. Sein
Überleben war wider die Natur. Aber es gab ihn. Er lebte, tanzte seine Stepptänze und fuhr weiterhin zur See.
Die Männer, die Moses Huntingtons
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