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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sie die Worte nachklingen. Es stimmte ja. Bluetooth war jetzt zwei Jahre und sieben Monate alt. Er hatte nie etwas anderes als die Nimbus kennengelernt, und nun war das Schiff verschwunden. Auch für sie war es in gewisser Weise ein Zuhause gewesen. Die wenigsten von ihnen glaubten an die Geschichte von der Nimbus als einem glücklichen Schiff. Doch Stück für Stück hatte ein Glaube den anderen abgelöst. Es war ihre Willenskraft, die Sorgfalt, die sie auf die Instandhaltung des Schiffs verwendeten, und vor allem ihre Liebe zu Bluetooth gewesen, die die Torpedos und Bomben abgehalten hatten.
    Nun spürten sie plötzlich, wie ihr Wille erlahmte. Der Krieg war für sie in diesem Moment vorbei – nicht weil er gewonnen war, sondern weil sie ihn einfach nicht mehr ertrugen. Es lag kein Triumph in diesem Augenblick. Sie wussten nicht wirklich, ob sie Gewinner oder Verlierer waren. Sie waren Überlebende, und nun wollten sie heraus. Sie balancierten auf Messers Schneide zwischen Kapitulation und Erleichterung, und als sie die Stimme des Kapitäns hörten, war es, als würde er für alle sprechen.
    «Ich glaube, wir können jetzt nach Hause gehen», sagte Knud Erik.
    Nach Hause, das war leichter gesagt als getan, denn die Besatzung hatte mehr Zuhause, als es Ecken auf dieser Welt gibt.

    «Soweit ich es sehen kann», fuhr er fort, «befinden wir uns irgendwo in der Mitte zwischen England und Deutschland. Diejenigen, die sich in England zu Hause fühlen, rudern dorthin …»
    Er deutete in Richtung Westen.
    «Und der Rest …»
    «Der Rest …?»
    Er wurde von Old Funny unterbrochen.
    «Was meinst du damit? Soweit ich weiß, haben wir keinen Deutschen an Bord?»
    «Wir wollen ja auch nicht nach Deutschland. Wir wollen nach Hause.»
    «Nach Dänemark?», fragte Sophie.
    «Nach Marstal.»
     
    Sie verteilten sich auf die beiden Rettungsboote. Old Funny blieb in Knud Eriks Boot. Er war es offenbar leid, immer wieder davonzulaufen. Nun wollte er nach Hause. Anton, Vilhjelm und Helge waren ebenfalls dabei. Knud Erik schaute einen Moment lang Sophie an. Dann nickte sie. Auch Wally und Absalon waren neugierig, den kleinen Ort kennenzulernen, der offenbar der Nabel der Welt zu sein schien – also warum nicht?
    Sie verteilten die Vorräte auf beide Boote. Es gab drei Wollpullover und drei Garnituren Ölzeug für jedes Rettungsboot. Sie wurden an die frierenden Heizer ausgegeben. Die Boote lagen schaukelnd nebeneinander, während sie sich über der Reling die Hände reichten. Bluetooth ging von Arm zu Arm und wurde von jedem umarmt.
    Er wurde unruhig und verstand nichts. Gerade noch hatte er sich von seinem Elternhaus verabschiedet. Nun sollte er auch von mehr als der Hälfte der Menschen Abschied nehmen, die es bewohnt hatten. Er rief nach seiner Mutter, als wäre sie der einzige Halt, der ihm noch auf der Welt blieb.
    Sie begannen zu rudern. Old Funny verlangte, aus seinem Rollstuhl befördert und auf eine der Ruderbänke gesetzt zu werden, damit er seinen Teil tun konnte.
    Mit seinem verbliebenem Arm zog er kräftig am Ruder, allerdings fiel es ihm nicht leicht, auf der Ducht das Gleichgewicht zu halten,
so dass Absalon näher heranrücken und ihn mit der Schulter stützen musste.
    In der zunehmenden Dunkelheit verschwand das andere Boot rasch außer Sichtweite.
     
    Lieber Knud Erik,
    als ich damals glaubte, du wärst ertrunken, habe ich etwas getan, an das ich seither nie wieder denken wollte.
    Ich habe mein wahres Ich erlebt, und das ist nie besonders angenehm.
    Es war an einem Nachmittag, ich ging ziellos auf dem Friedhof umher, als ich plötzlich vor einer Grabstätte in der nordwestlichen Ecke stand. Dort, wo Albert liegt. Ich habe mich nie um sein Grab gekümmert, obwohl er doch mein Wohltäter gewesen ist.
    Der alte Thiesen, der Totengräber, war dabei, mit einem Pinsel den schmiedeeisernen Zaun um den Grabstein zu streichen. Das Unkraut hatte er bereits gejätet, und es war abzusehen, dass die vernachlässigte Grabstelle sich unter seinen sorgfältigen Händen zu einer Gedenkstätte für einen der großen Reeder der Stadt verwandeln würde.
    Ich hatte das Gefühl, als ob alles in mir, meine Angst, mein Kummer und die Ungewissheit, das ständig Verheimlichte und Einsame meines Lebens, die Selbstvorwürfe, die bedrückende Verantwortung, die nahezu ungeheuerliche Aufgabe, die ich mir vorgenommen hatte – es war, als ob sich all dies zu einem großen Ausbruch zusammenballte, zu einem hemmungslosen Wutanfall, der seinen

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