Wir Ertrunkenen
könnte», sagte sie. «Es ist mein Leben. Ich kann nicht anders.»
Er verstand, was sie meinte. Er selbst hatte sich entschieden, Seemann zu werden, doch irgendwann hatte das Meer ihn gewählt, und
diese Wahl ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Damals, als sie sich zum ersten Mal begegneten, hatten er und Sophie so unterschiedliche Ansichten gehabt, doch seither war ihr Leben parallel verlaufen. Trotzdem gab es etwas, das ihn zurückhielt, und er spürte das Gleiche bei ihr.
Er war keineswegs impotent, aber irgendwo in seiner Seele war er es doch. Im Augenblick der Ekstase suchte er das Vergessen. Das war alles, wozu er in der Lage war. Er konnte nicht gleichzeitig in ein Gesicht sehen und lieben.
«Ich komme nach meiner Großmutter», erklärte sie. «Sie war so eine Verrückte, die nicht mit anderen zusammenleben konnte. Sie konnte sich nicht einordnen. Ihr Drang nach Selbständigkeit war zu groß, ihr blieb nur die Einöde. Sie hatte das Eis. Ich habe das Meer. Aber im Grunde ist es das Gleiche, denke ich.»
«Jetzt hast du ein Kind. Du bist gezwungen, dich anzupassen. Bluetooth hat nur dich.»
«Er hat uns», erwiderte sie.
Er wusste nicht, ob sie mit dem Wort «uns» ihn oder die Besatzung des Schiffs meinte, deren Teil sie nun war. Er hätte sie gern gefragt, wagte es aber nicht, weil er fürchtete, mit seiner Frage etwas zu zerstören.
Sie war es, die das immer verlegenere Schweigen zwischen ihnen brach.
«Ich weiß sehr wohl, wer Bluetooth’ Vater ist», sagte sie. «Er ist nicht, wie die meisten von euch wahrscheinlich glauben, irgendein Seemann, dem ich zufällig bei einem Landgang über den Weg gelaufen bin. Ich kenne seinen Namen und seine Adresse, ich habe seine Eltern und seine Freunde getroffen. Wir waren verlobt und wollten heiraten.»
«Und was war nicht in Ordnung?»
«Nicht in Ordnung war, dass er aussah wie James Stewart, du weißt schon, dieser amerikanische Schauspieler, der eins neunzig groß ist und ein Gesicht wie ein Junge hat.»
«Na ja, aber er ist doch nett.»
«Ja, er ist so damn nice, dass ich nicht weiß, ob ich heulen oder kotzen soll. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Er war nett, ordentlich, grundsolide, er liebte mich und hatte eine gut gehende Anwaltskanzlei
in New York. Plenty money, plenty everything, wir sollten in Vermont wohnen, unsere Kinder sollten auf dem Land aufwachsen, der Krieg sollte weit weg sein, und selbst wenn sie die größte Bombe der Welt schmeißen würden, hätten wir es nicht einmal gehört.»
«Und das hast du nicht ausgehalten?»
«Doch, das war es ja, was ich am liebsten wollte. Aber ich bin einem anderen versprochen. Wie heißt es doch, dieses kleine hässliche Männlein, Rumpelstilzchen? Es gibt keinen Prinzen, der mich retten kann. Einen Augenblick glaubte ich, James Stewart könne es. Aber in Wahrheit wollte ich am liebsten bei Rumpelstilzchen sein. Weißt du, was ich am Ende an ihm hasste, bei meinem James-Stewart- boyfriend? Seine verdammte Unschuld. Es endete damit, dass ich ihn für unehrlich hielt. Er führte mich zum Essen aus. Wir prosteten uns mit einem Glas in der Hand zu. Wir planten unsere Zukunft. Der Krieg hätte ebenso gut nicht existieren können. Wir saßen nur da und ließen es uns auf unsere eigene ordentliche, bescheidene Art gut gehen, und hinterher gingen wir nach Hause und schliefen in unseren weichen Betten – und das würden wir bis an unser Lebensende tun. Ich hielt es nicht aus. Statt ihm zuzuprosten, schmiss ich ihm eines Abends das Glas an den Kopf. Es war nicht seine Schuld. Er konnte ja nichts dafür, dass er nie gesehen hatte, wie vor den eigenen Augen hundert Männer ertrinken oder ein Schiff in die Luft fliegt. In Wahrheit bin ich es, mit der etwas nicht stimmt. Aber ich empfand seine Unschuld als Beleidigung.»
Sie breitete die Arme aus.
«Nicht unbedingt, weil ich das hier so liebe. Ich kann nicht einmal erklären, warum ich hier bin. Ich passe nirgendwohin. Doch – hierher. Oder besser…»
Sie lächelte plötzlich erleichtert, als ob ihr Redestrom endlich zu dem erlösenden Wort gefunden hätte.
«… es ist die k’ivitok in mir.»
Die Vertraulichkeit zwischen ihnen wuchs, aber es gab auch eine Distanz, die nicht kleiner werden wollte. Sie hat recht, dachte Knud Erik. Es war der Krieg. Sie beide waren darin verstrickt. Erst wenn der Krieg vorbei wäre, könnte es zwischen ihnen klappen. Aber wann würde das sein? Wären sie noch da, wenn es irgendwann dazu käme? Er
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