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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wünschte
sich ein Kind mit ihr. Es gab einen blinden Trieb in ihm, aber wie lange konnte sie warten?
    Sie war ein paar Jahre älter als er, vierunddreißig oder fünfunddreißig. Wie lange war eine Frau gebärfähig?
    Er gab es auf. Es gab Bluetooth. Er war sein Kind – und das der ganzen Besatzung.
     
    Sie feierten Weihnachten nördlich von Irland. In Halifax war Wally mit einem Tannenbaum auf der Schulter an Bord gekommen. Er hatte ihn auf den Vordersteven gebunden, und erst als sie ihn in der Messe aufstellten, begann der Baum zu nadeln. Helge hatte irgendwo eine Tüte Haselnüsse aufgetrieben. Es gab vier für jeden. Er hatte die Nüsse in rosa Krepppapier eingewickelt, das musste als Geschenk reichen. Dennoch stapelten sich unter dem Weihnachtsbaum die Pakete. Sie waren alle für Bluetooth, obwohl er noch viel zu klein war und nichts von all dem verstand. Sophie packte sie aus. In ihnen lag die Welt, die er erst kennenlernen durfte, wenn der Krieg vorüber war. Es handelte sich um Kühe und Pferde, Schweine und Schafe, einen Elefanten und zwei Giraffen. Die meisten Figuren hatten die Schenkenden selbst geschnitzt und dann mit den vorhandenen Farben sorgfältig bemalt. Es waren die Farben der Welt, in die sie der Krieg gesperrt hatte, überwiegend schwarz, grau und weiß.
    Bluetooth nahm eine Figur nach der anderen – Kühe, Pferde und Elefanten – in den Mund und kaute darauf herum.

    Bluetooth war ungefähr ein Jahr alt, als Sophie eines Abends mit der Mannschaft in Liverpool an Land ging. Er schlief im Matrosenlogis bei Wally, seinem besonderen buddy, der sich freiwillig zum Aufpassen gemeldet hatte.
    Knud Erik wusste nicht, was sie suchte. Suchte sie nach etwas, das sie einander nicht geben konnten, sondern nur bei Fremden zu finden war?
    Er ging allein an Land. Den Whisky hatte er in den Schrank gestellt
und nicht wieder herausgenommen. Aber auf die Nächte an Land konnte er nicht verzichten.
    Sie trafen sich in einem Pub an der Court Street. Sie trug ein dunkelrotes Kleid und hatte sich die Lippen geschminkt; er musste an das erste Mal denken, als er sie im Haus ihres Vaters in Little Bay besuchte. Wie in beidseitiger Absprache schauten sie weg und taten so, als ob sie sich nicht gesehen hätten.
    Er kehrte kurz darauf aufs Schiff zurück und ging sofort ins Bett. Eine halbe Stunde später wurde die Tür seiner Kajüte geöffnet, und ein unerwarteter Duft nach Parfüm erfüllte den engen Raum.
    Hatte er absichtlich vergessen, die Tür abzuschließen?
    «Wir können so nicht weitermachen», sagte sie und begann sich in der Dunkelheit auszuziehen.
    «Ich habe einen Menschen getötet», sagte Knud Erik. «Er lag auf den Knien und bat um Gnade, dann habe ich ihn erschossen.»
    Sie legte sich neben ihn in die Koje und nahm seinen Kopf in ihre Hände. Im schwachen Schein des skylights konnte er kaum ihre Gesichtszüge erkennen.
    «Mein Knud Erik», sagte sie, und ihre Stimme klang rau. Es lag eine Zärtlichkeit darin, die er nie zuvor gehört hatte.
    Er befreite sich aus ihrem Griff und stieg aus der Koje.
    «Ich brauche Licht», sagte er.
    Er schaltete die elektrische Lampe ein und legte sich wieder zu ihr.
    «Die roten Notfeuer.»
    Er wusste nicht, warum er es sagte. Es waren die verbotenen Worte, die verbannte Erinnerung, die er auf Abstand hielt, damit er überleben konnte. Aber etwas in ihm verstand, dass er die Worte aussprechen musste, wenn er lieben wollte.
    «Es gibt niemanden unter uns, der nicht an sie denkt», sagte sie.
    «Ich bin über sie hinweggefahren.»
    «Wir», sagte sie, «wir sind über sie hinweggefahren.»
    Er ließ seine Hand über ihr Gesicht gleiten und spürte, dass ihre Wange feucht war.
    Er zog sie an sich und blickte ihr in die Augen.
    Um sie herum war es ganz ruhig. Es heulte kein Fliegeralarm, es fielen keine Bomben, keine Wellen, die über das Deck schwappten, kein Krachen
explodierender Munitionsschiffe. Es gab nur das Geräusch eines Dynamos, der im Bauch des Schiffs arbeitete.
    Er hielt sie noch immer fest.
    «Meine Sophie», sagte er.

    Im August 1943 kam es in Dänemark zum Aufstand, in Kopenhagen und anderen Städten wurden Barrikaden errichtet. Die Regierung beendete ihre Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht und trat zurück. Die Offiziere der Flotte versenkten ihre eigenen Schiffe, die auf dem Grund des Kopenhagener Hafenbeckens endeten.
    Der Dannebrog wurde wieder zu einer Flagge, die an einem Schiff in alliierten Kriegsdiensten wehen durfte. Inzwischen

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