Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
erstickten sie beinahe aus Mangel an Luft, und jeden Tag kam es vor, dass Kinder ohnmächtig umfielen.
    Irgendeine Tafel oder Schreibgeräte gab es nicht. Die Schüler standen vor einer Schale mit Sand und schrieben mit einem Hölzchen. Ihr gesammeltes Wissen begrenzte sich auf in Sand Geschriebenes, das bei dem geringsten Windstoß verweht wurde.
    All dies erinnerten die drei Mitglieder der Kommission. Sie blickten auf die neue Schule, die Tintenfässer, die Tafeln und einen Lehrer, der von zwei zukünftigen Königen belobigt worden war, und dachten, dass die Dinge Fortschritte machten. Gegen die Abneigung der Kinder zu lernen gab es nur ein einziges Mittel, und das hieß: mehr Prügel.
    Wir beklagten uns im Übrigen selten. Es war ein Teil des Zusammenhalts, den Isager uns beigebracht hatte: Sogar unseren Plagegeist verrieten wir nicht. Wir kamen mit kahlen Stellen nach Hause, an denen uns Isager rasend vor Wut die Haare büschelweise ausgerissen hatte; mit blauen Augen und Fingern, die weder ein Messer noch eine Gabel halten konnten. Wir behaupteten, wir hätten uns geprügelt. Wenn wir gefragt wurden, mit wem, antworteten wir, der Name des Betreffenden wäre Niemand.
    Wir schworen, dass Isager seinen Teil bekommen würde, sobald wir erwachsen wären. Wir verstanden das stumme Einverständnis unserer Väter mit den Misshandlungen nicht. Sie wussten doch, wer Niemand war. Sie waren selbst Opfer seines Tampens gewesen. Doch sie waren blind für die Leiden ihrer Kinder.
    Die Mütter ahnten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
    Aber der Obrigkeit gegenüber fühlten sie sich stets machtlos. An Stärke fehlte es ihnen nicht, denn es erforderte Stärke, mit so vielen Kindern fertig zu werden, wenn der Mann auf See war. Doch wenn sie zum Pastor oder dem Lehrer kamen, wurden sie unsicher und zweifelten an ihrer eigenen Urteilskraft.
    «Bist du sicher, dass es nicht Isager war?», wollten sie wissen.
    Und wir nickten. Eigentlich wussten wir nicht so genau, warum wir ihn nicht als Ursache für unsere täglichen Schrammen angaben, sondern uns stattdessen selbst bezichtigten.
    «Hm, vielleicht lernst du daraus, dich aus Prügeleien herauszuhalten.»

    Und dann bekamen wir eine Ohrfeige.
    «Sieh dir deine Schwester an, jeden Tag kommt sie sauber und ordentlich aus der Schule nach Hause.»
    Das war richtig. Doch unsere Schwestern unterrichtete der Hilfslehrer Nothkier, und der schlug nicht.
    So war Lehrer Isager. Unsichtbar begleitete er uns nach Hause und säte Zwietracht zwischen uns und unsere Mütter und Väter.

    Der Winter kam und damit der Frost. Der Hafen fror zu, wo die Schiffe auflagen, und Eisschollen schoben sich über den Strand. Es gab keine Grenze mehr zwischen der Insel und dem Meer. Das Wasser war verschwunden, und wir wohnten inmitten eines weißen Kontinents, der uns in seiner Unendlichkeit anzog und erschreckte. Wenn wir wollten, konnten wir bis zur Steilküste von Ristinge drüben auf Langeland gehen, quer über die Fahrrinnen und Werder, die wie kleine Hügel aus dem Eis ragten und Schneeverwehungen und Eisschollen um sich sammelten. Es war wild, stürmisch und einsam.
    Selbst in unsere Straßen drängte diese neue Landschaft. Der Schnee tanzte in wirbelnden Flocken und wurde für einen Moment zu einem dichten Treiben, dass es von den Masttopps stob und die Landschaft verschwand. Wir mussten hinaus und uns an diesem Tanz beteiligen, mit Schlittschuhen hinunter zum Hafen oder über die Felder zu den Hügeln bei Drejet, um uns mit den Bauernjungen zu prügeln oder mit den Schlitten die Abhänge hinunterzusausen.
    Isager stand uns im Weg, aber der Winter war auf unserer Seite. Ohne Kachelofen ließ sich die Kälte im Klassenzimmer nicht ertragen. Ein Kachelofen aber konnte verstopft werden, und wenn der Rauch schließlich den Raum füllte, musste er uns nach Hause schicken.
    Dann stand er in der Tür und versetzte uns als Abschiedsgruß einen Schlag in den Nacken.
    «Du Lümmel!», sagte er zu jedem Einzelnen.
    Er konnte kaum atmen vor Rauch. Die Augen hinter den Brillengläsern waren rot, aber schlagen musste er uns. Wie der Kapitän eines sinkenden
Schiffs trat er als Letzter heraus, mit einem fürchterlichen Hustenanfall. So stark war sein Hass auf uns, dass er lieber ersticken wollte, als auch nur auf einen einzigen Schlag zu verzichten.
    Nur sonntags konnten wir ohne schmerzende Nacken den Schnee genießen.
     
    Es war Niels Peter, der eines Tages seinen Pullover in das Abzugsrohr des Kachelofens

Weitere Kostenlose Bücher